Zwischen Kälteschock und Schildkrötenmassaker – unsere ersten Tage in China

Und dann schneidet sie der Schildkröte den Hals ab. Mit einer Schere. Die Schildkröte lebt noch. Wir sind in Zha Ping Tan Village, einem Bergdörfchen der Region Wuyuan in der Provinz Jiangsu. Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - in Zha Ping Tan VillageSeit vorgestern sind wir, von Vietnam kommend, in China und eigentlich ist Shanghai unsere erste Station. Doch am Tag nach unserer Ankunft in der überraschend kühlen Millionenmetropole hat unser Couchsurfing-Freund und Gastgeber Bao die Idee, dass er mit uns einen mehrtägigen Ausflug machen will. Warum nicht, denken wir. Er will uns eine Gegend zeigen, die berühmt für seine besondere “Scenery” ist. “Scenery”, ein Wort, das wir in China das erste Mal hier hören. Es meint eine sehenswürdige Landschaft, die zu besuchen in China immer, immer Geld kostet. Unsere “Scenery” liegt in der Region Wuyuan, das berühmt ist für die schönen Dörfer aus der Zeit der Ming- und Qing-Dynastien. Typisch für die sogenannte Huizhou-Architektur jener Zeit sind die Wohnhäuser mit weißen Wänden und eigentümlich geschwungenen Dächern.

Zwischen Kälteschock und Schildkrötenmassaker - unsere ersten Tage in China - auf dem Weg nach WuyuanZiel unseres Ausflugs ist ein kleines Hotel, im Internet sehen wir ein schönes weißes Haus mit Garten, es soll ruhig sein und wunderschön inmitten von grünen Hügeln gelegen. Die Fahrt würde nur drei Stunden dauern. Fein, denken wir und brechen auf. Am Ende werden es fast zehn Stunden – auch Chinesen unterschätzen ihr Riesenreich. Aber sicher hat auch der starke Dauerregen, der kurz hinter Hangzhou einsetzt und uns fortan begleitet, die Fahrt in die Berge verlangsamt.

Als wir die Adresse spät in der Nacht finden, ist nicht viel von grünen Hügeln zu sehen. Das Hotel steht vielmehr in einer schmutzigen Seitenstraße des Provinzstädtchens Qinghua. Keine weiße Villa, kein Garten. Und alles verrammelt. Erst Baos energisches Klopfen fördert einen verschlafenen und unüberhörbar erkälteten Concierge zu Tage: “Ja, dies ist das Hotel, das wir im Internet gebucht hatten.” Oh weh! Immerhin, die Zimmer sind einigermaßen sauber und haben sogar eine Klimaanlagen-Heizung – ungewöhnlicher Luxus für Chinas Süden, in dem es südlich des Yangtse-Flusses grundsätzlichZwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - Shanghai verboten ist, zu heizen. Warum? Ein Gesetz aus alten Zeiten, in denen es noch galt, Kohle und damit Energie zu sparen – ad absurdum geführt angesichts des aktuellen Shanghai mit seinem gleißenden Lichtermeer, das auch durch Kohlekraftwerke gespeist wird.

Nach der beschwerlichen Anreise nun noch ein schnelles Abendessen. Wie gut, dass sich gleich gegenüber ein Restaurant befindet, meint Bao. Doch was ich gegenüber entdecke, lässt mich grausen. Die Wand schwarz vor Schimmel und von Essensresten, die die Wirte einfach aus Fenster und Tür kippen. Vor dem Hintereingang ein entsprechender Berg Müll. Eine Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - lecker!üble Spelunke, scheint mir. Aber Bao steuert unbeirrt geradewegs auf diesen widerlichen Hintereingang zu. Der Wirt steht an der Tür und winkt uns herein, wir gehen mutig durch die Küche, die zwar auch schwarz ist, aber immerhin nicht so dreckig, wie der Eingang vermuten ließ. Wir kommen an Lebensmitteln vorbei, von denen einige noch leben und besonders die Krebse, Fische und Schnecken lassen unsere Kinder aufleben – endlich vernünftiges Spielzeug!

Wir hingegen sind entgeistert. Der Gastraum, in den wir freundlich gebeten werden, starrt vor Dreck, die Wände verschmiert und schimmelig. Der Tisch, den eine drehbare Glasplatte ziert, ist mit Malerfolie gedeckt – wir sehen diesen Tischschutz hier das erste Mal und lernen erst später, dass es in solchen kleinen Lokalen wohl ganz normal ist, Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - "liebe Krebse"Tischdecken auf diese Weise zu schützen. Das Geschirr ist, auch das ist üblich in derartigen Restaurants, eingeschweißt – wohl aus gutem Grund. Uns gibt es zumindest ein bisschen Sicherheit. Aber der Tee, der flugs gebracht wird, beruhigt. Und auch das Essen, das wenig später aufgetischt wird, ist überraschend schmackhaft. Selbst die Kinder lassen sich durch die Speisen von ihren “lieben Krebsen” weglocken.

Trotzdem, so hatten wir uns unseren Ausflug ins Grüne nicht vorgestellt. Am nächsten Morgen, an dem es nach wie vor schüttet, fahren wir in besagtes Bergdörfchen. Der Hotelbesitzer hatte Bao den Tipp gegeben. Dort oben, sagte er, dort ist es wirklich ruhig.

Das glauben wir gern, denn es ist nicht gerade einfach, hinauf zu gelangen. Eine Serpentinenstraße schraubt sich die Berge hoch und höher. Wasserfälle rauschen links und rechts. Wir fahren an einem bedrohlich angeschwollenen Fluss entlang, der hier und da bereits Teile der Straße weggespült hat. Dazu der unaufhörliche Regen.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - das Ende eine SchildkröteNach einer Stunde Fahrt stehen wir endlich auf dem Marktplatz von Zha Ping Tan Village, das fast nur  aus kleinen Pensionen besteht und geraten in dieses archaische Schauspiel mit der Schildkröte. Wie auf Bahnschienen gezogen, ist mein älterer Sohn natürlich sofort am Ort des Geschehens. Ich sehe zu spät, was da Fürchterliches passiert. Und höre später von Alex, dass die Frau der Schildkröte zuvor auch schon den Schwanz abgeschnitten hatte. Tonlos schrie die Kreatur mit weit offenem Maul. Und Anton, der mir zuvor noch begeistert Geschichten übers Kopfabschneiden erzählt hat, ist seltsam still. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn er mal sieht, wie grauenvoll das ist, von dem er mir immer wieder mit leuchtenden Augen erzählt, denke ich.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - Eingangsbereich unserer PensionWir ziehen endlich los, um uns ein Dach über dem Kopf zu suchen. Das erste Gasthaus stinkt, wir lehnen ab. Das Zweite scheint auf den ersten Blick okay zu sein, ein zweiter belehrt uns eines besseren und wir ziehen weiter. Dann das dritte, fast am Dorfrand gelegen, überzeugt schließlich zaghaft. Die Zimmer sind eiskalt, aber hell und sauber, der Eingangsbereich eigentümlich urig. Vor dem Haus versprechen ein paar Holzscheite wohlige Wärme. Ob es auch eine Heizung oder Öfen gibt, fragen wir naiv. Nein, nein, lächelt man uns an. Im ganzen Dorf gibt es kein einziges beheiztes Haus. Na, das kann heiter werden. Schon jetzt frieren wir wie die Schneider. Es sind jetzt fünf Grad und wer weiß, wie kalt es nachts wird. Ob die Kinder mit der Kälte klarkommen?

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - ein bisschen WärmeSie kommen, merken wir schnell. Denn im Eingangsbereich, wo es immerhin ein kleines Kohlebecken mit viel Asche und ein wenig Glut  gibt, steht ein Fernseher. Anton ist von martialischen, chinesischen Revolutionsfilmen gebannt, wir richten uns in unserem Kühlschrank ein. Wenigstens sind die Decken richtig dick, nachts werden wir wohl nicht erfrieren. Doch was machen wir bis dahin? Rausgehen ist für mich keine Option bei dem Regen. Die tapfere Alex lässt sich nicht beeindrucken und versucht, von Kopf bis Fuß in Regenkleidung gewickelt, eine Wanderung. Eine halbe Stunde später ist sie klatschnass wieder da. Sie hat im Ort einen kleinen Laden entdeckt, in dem es Süßigkeiten und tatsächlich auch eine Flasche Wein gab – genau das Richtige für verregnete, kalte Wintertage ohne Heizung, dachte sie, kaufte die Sweets und befreite den Wein, der wohl schon sehr lange Zeit in dem Laden in Isolationshaft zugebracht hatte.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - in Zha Ping Tan VillageMit Wein und gutem Essen bringen wir den Abend herum, umringt von den dick eingepackten Alten des Dorfes, die unsere Kinder anstaunen und uns freundlich anlächeln. Was die wohl hier wollen, lesen wir auf ihren Gesichtern. Das fragen wir uns auch. Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - ein Allzweck-Fischteich im DorfDenn neben viel Müll und ausgetretenen Wegen, neben Gärten, die offensichtlich mit Fäkalien gedüngt werden und trüben Fischteichen, die auch als Küchen-Waschplatz dienen – ich sehe eine Frau ein gerupftes Huhn hier waschen –  gibt es nicht viel. Das soziale Leben spielt sich an dem besagten Bächlein am Dorfplatz ab.  Wie in alten Zeiten treffen sich hier die Bewohner für einen Schwatz. Hier wird Wäsche gewaschen oder auch Gemüse, hier steht das Versammlungshaus

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - in Zha Ping Tan VillageEs leben vornehmlich alte Leute hier. Mittelalte gibt es kaum, die sind alle in der Stadt, wo das Leben einfacher ist und nicht so arm. Kinder sehen wir nur wenige. Klarer kann einem nicht vor Augen geführt werden, welche Folgeproblematik mit Chinas Ein-Kind-Politik einhergeht. Das hat auch chinesische Regierung erkannt und seit Kurzem dürfen deswegen Chinesen, die aus Ein-Kind-Familien stammen, zwei Kinder bekommen.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - Blick von unserem FensterAm nächsten Morgen, den wir erstaunlicherweise erleben, haben sich die Regenwolken verzogen. Ein grauer Himmel dehnt sich über den Bergen, die wir das erste Mal richtig sehen. Die Landschaft ist wirklich schön hier oben. Fast wie der Schwarzwald. Nur, dass überall grüner Tee angebaut wird – ein weiteres Markenzeichen der Region. Und wenn nun auch noch die Azaleen und der Raps geblüht hätten, wofür die Gegend gerade im Frühling berühmt ist, wäre dieses Dörfchen ein großartiges Ausflugsziel gewesen.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - Karte der Scenery "Rainbow Bridge of Shangrao"Schade, dass jegliche Wanderwege fehlen. Aber man darf natürlich nicht einfach so in den Wald gehen oder gar einen Berg besteigen, viel zu gefährlich, sagt Bao, sichtlich irritiert über unser Ansinnen. Vielleicht ist der Zugang aber auch verwehrt, weil ohne “Scenery”-Zertifikat natürlich auch die Einnahmen fehlen. Denn die Eintrittsgelder sind happig, wie wir wenig später erfahren. Für den Eintritt in die “Scenery” der Rainbow Bridge of Shangrao werden 120 Yuan fällig, das sind immerhin 20 Euro, und wir sind froh, dass unsere Kinder noch klein sind und umsonst mit rein dürfen.

Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - "Rainbow Bridge of Shangrao"Anderthalb Stunden verbringen wir in der Anlage, bestaunen die alte Brücke mit einem überdachten Korridor, die während der südlichen Song-Dynastie (1127–1279) gebaut wurde und als eine der  schönsten Brücken Chinas gilt. Wir wandeln am Fluss entlang, in dem per Gesetz nicht Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - im taoistischen Kloster von Qinghuageangelt, wohl aber Wäsche gewaschen werden darf, und steigen zum alten taoistischen Kloster hoch, das hier im seltsamen Dämmerschlaf ruht. Halb Museum, halb Religionsstätte. Wir sehen ein paar Mönche und fragen uns, ob sie echt sind. Insgesamt lässt der Zustand zu wünschen übrig, aber die Glocke oben auf den Turm ist intakt und unsere Kinder entlocken ihr tiefe, warme Brummtöne.

Und dann ist unser Ausflug in die Region von Wuyuan auch schon wieder zu Ende. Bao hat morgens einen Anruf bekommen, der ihn wieder in die Stadt zurück orderte. Beim Abschied aus dem Bergdorf geraten wir noch in eine Beerdigung. Chinesische Böller knallen lautstark, es wird ein Hahn zu irgendeinem Zweck vorbei getragen, auf dem Marktplatz haben sich fastZwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - endlich Feuer alle Bewohner versammelt und im Versammlungsraum wurde offensichtlich etwas verbrannt. Ein glühender Balken liegt noch dort – ein weiteres Highlight für Anton, der gemeinsam mit einem Dorfkind nun nach Herzenslust kokelt.

Dann heißt es Abschied nehmen. Wir bedauern, dass wir nicht mehr sehen konnten, aber freuen uns auch irrwitzig darauf, wieder in die Zivilisation zurück zu dürfen. Zwischen Kälteschock und Schildkröten-Massaker - unsere ersten Tage in China - endlich zurückfahren!Zwar gibt es auch bei Bao keine Heizung, aber immerhin einen Heizstrahler neben dem Bett, für nachts eine Heizdecke und im Bad sind spezielle Wärmelampen angebracht, die den morgendlichen Badbesuch nicht zum Überlebenskampf werden lassen. Als wir die Wolkenkratzer-Skyline und die glitzernden Lichter von Shanghai sehen, das in seiner Modernität glänzt und funkelt, erscheint unser Ausflug in die Berge von Wuyuan umso mehr wie eine Zeitreise ins dunkle Mittelalter.

Wie die Kinder diesen Ausflug vertragen haben? Sie haben einmal mehr ihre unglaubliche Anpassungskraft bewiesen und das Beste aus dem gemacht, das eben da war. Sie hatten Spaß. Aber sie haben, so wie wir, auch eine dicke Erkältung von diesem Abenteuer mitgebracht.

 

Petra

4 Kommentare zu “Zwischen Kälteschock und Schildkrötenmassaker – unsere ersten Tage in China

  1. Sven

    Hi Ihr Lieben!
    Bei der Geschichte mit der Schildkröte musste ich schmunzeln. Dafür muss man in Deutschland nicht ins Mittelalter zurückschauen. Mein Kochbuch von Henriette Davidis, gibt es übrigens bei Manufaktum als Neuauflage, beschreibt sehr detailliert den Vorgang der Zubereitung einer Schildkrötensuppe. Keine Angst, in der aktuellen Version ist diese Gericht nicht mehr aufgeführt, wie auch einige andere Tiere nicht mehr in den Topf müssen.
    Wir freuen uns auf Euch und Eure Inspirationen, wenn wir wieder gemeinsam in Hamburg kochen.
    Bis dahin liebe Grüße Sven

    1. Petra Autor des Beitrags

      Lieber Sven, ich hoffe, in deinem Kochbuch musste die Schildkröte nicht mit einer stumpfen Schere geköpft werden… Wir freuen uns auch auf gemeinsame Kochsessions, aber ohne Amphibien – obwohl die Frösche in Hanoi allen gut geschmeckt haben 😉 Liebe Grüße nach Hause und nach Hamburg, Petra & Alex

  2. Didi

    Willkommen in China!

    Ihr habt ja schon richtig viel erlebt! Bei uns in Beijing ist es jetzt schon deutlich über 30 °C warm 🙂

    Liebe Grüße,
    Didi

    1. Petra Autor des Beitrags

      Lieber Didi, in der Tat, das war schon eine Art Kulturschock, aber inzwischen haben wir uns akklimatisiert, wir sind nun auch in Xi’an und hier ist auch der Sommer ausgebrochen. Die Kälte liegt wohl erst mal hinter uns – bzw. vor uns, denn am 4. Mai gehts weiter in die Mongolei!