Chile hat uns unfein begrüßt. Die wertvollsten Dinge wurden uns geklaut. Unsere Weltreise-Euphorie hat einen erheblichen Dämpfer bekommen. Wie das passieren konnte? Das hat im weitesten Sinne mit dem Couchsurfen zu tun:
Unser erster Couchsurfing-Gastgeber in Santiago hatte uns sehr kurzfristig versetzt. Im Internet fanden wir ihn sehr sympathisch, mit Clownsnase und sehr guten Bewertungen. Er lud uns wortreich und lieb ein. Nun vertröstet er uns – wir sind gerade angekommen und völlig übernächtigt – auf den nächsten Tag und wir müssen in einer Tankstelle ausharren, um uns schnell um ein nahes Hotel zu bemühen. Mit den Augen im Computer, umringt von hilfsbereiten Tankstellenangestellten, die Kinder im Blick und nicht immer an allen Ecken des Gepäckhaufens, ist es leicht, ein typisches Opfer eines Langfingers zu werden.
Nach einer Nacht im Hotel, das wir zu guter Letzt gebucht hatten, fahren wir am nächsten Morgen doch noch ins Nobel-Viertel Los Dominicos, wo Fernando lebt. Ein gutes Gefühl haben wir allerdings nicht. Und das Unglück bleibt uns hold. Der liebe Student lässt schon wieder auf sich warten! Wir sitzen in einem Café, eine Ewigkeit. Ein Eis folgt auf das andere. Die schlechte Laune steigt ins Unermessliche. Irgendwann erfahren wir, dass wir von seiner Großmutter in der Parallelstraße einen Hausschlüssel erhalten. Die Haushaltshilfe überreicht uns dazu einen Auflauf! Wie nett! Wendet sich das Blatt? Das Essen ist jedenfalls köstlich.
Wir sind dankbar, endlich irgendwo anzukommen – und bemerken irritiert, dass von Fernandos Familie – er wohnt mit seiner Schwester und seinem Bruder im Haus seiner Mutter – niemand weiß, dass heute Gäste kommen. Wie peinlich! Fernandos Schwester erzählt uns, dass ihr jüngerer Bruder heute Abend seinen Geburtstag feiern wird. Schön, denken wir und kaufen sofort ein, natürlich auch eine Torte. Am Abend erfahren wir: Wir sind gar nicht eingeladen! Geht`s schlimmer?!
Wir verkrümeln uns ins Obergeschoss. Von unserem Couchsurfing–Host fehlt weiterhin jede Spur. Die Situation ist uns schrecklich unangenehm, aber die Kinder haben oben in unserem Zimmer Spaß mit den Katzen und vielen Instrumenten. Es ist staubig hier, Bett und Couch sind nicht bezogen, hat Fernando wirklich mit uns gerechnet?
Spät am Abend essen wir doch noch alle gemeinsam Torte, Fernando ist endlich aufgetaucht. Freundlich ist er. Und total zugedröhnt vom Feiern des Semester-Endes. Die Großmutter war schon lange gegangen. Sie ist krank und die wuseligen Kinder waren ihr zu viel. Schade, dass uns das keiner gesagt hat. Dann eröffnet uns die Jura studierende Mutter, dass sie morgen ein wichtiges Examen hat. Oh! Da wünscht man sich doch einen lauten und fröhlichen Besuch. Kinder, die nachts nicht immer leise sind oder früh wach. Danke für die Einladung, denken wir, wir fühlen uns so richtig wohl. Die Mutter bedauert die Situation und wir werden warm miteinander. Wie toll, eine zu erleben, die so spät noch einmal einen beruflichen Neuanfang wagt. Alleinerziehend mit drei Kindern. Wir sind voller Bewunderung.
Eine Nacht mit geklonten Models: Die Polizistinnen Chiles
Ich muss noch zur Polizei, den Diebstahl melden, und traue mich kaum zu fragen, ob mir jemand den Weg zum nächsten Revier zeigen kann. Fernando möchte mich fahren. In dem Zustand? Ich bin froh, heute ist echt alles egal.
Wir kommen unversehrt an und plaudern lustig. Wir haben ja auch sehr viel Zeit, es kann dauern, nachts um zwölf auf dem Revier. Ich fühle mich unangemessen beschwingt, aber so ist das vielleicht, wenn du völlig nüchtern, aber komplett erschöpft, mit einem Durchgefeierten eine absurde Situation bewältigen musst. Schon vor der Tür kämpfe ich mit einem aufsteigenden Lachkrampf, als ich „Hola” zu der Wache schiebenden Polizistin sage. Sie ist attraktiv, sogar sehr. Frau oder Mann, keine Ahnung. Mann mit knallrotem Lippenstift? Nein, es ist doch eine Frau und ihre Uniform ist so hauteng auf den Leib geschneidert, dass ich unwillkürlich an Pornofilme denken muss. Und lache. Völlig unpassend. Die zweite Polizistin sieht ganz genauso aus. Ähnliche Gesichtszüge, der gleiche schrille Lippenstift, das coole Pokerface. Die müssen das in ihrer Ausbildung gelernt haben. Ich fühle mich wie im falschen Film, alles ist so irreal.
Leider sorgt das Protokollieren des Diebstahls schnell dafür, dass ich in der bitteren Realität ankomme: Es dauert alles viel länger als gedacht. Erst spät in der Nacht komme ich zurück, Petra und die Kinder schlafen längst.
Als nächsten Schritt müssen wir das amtliche Protokoll ein paar Tage später gegen einen Zettel mit Nummer eintauschen, dieser muss wiederum zu einem anderem Büro getragen werden und dann dauert es wieder eine Woche, bis wir einen Versicherungszettel erhalten. Überall werden wir Stunden für das Prozedere ein planen müssen.
So haben wir uns unser Ankommen in Chile nicht vorgestellt. Aber ist das nicht der Klassiker in Südamerika? Diebstahl. Weil die Touristen nicht auf ihr Gepäck aufpassen. Samt Konfrontation mit dem südländischen Zeitverständnis und der berühmten „Zuverlässigkeit“, von der wir schon gehört haben. Hoffentlich wird das besser, schließlich wollen wir fast drei Monate in diesem Land verbringen.
Kunst und Musik im öffentlichen Nahverkehr
Am nächsten Tag machen uns auf in den Stadtteil Las Mercedes zu unseren nächsten Couchsurfing-Hosts – nein, wir wollen diese Art des Reisens nicht aufgeben. So viel Schönes haben wir bisher damit erlebt. Die nächste Gastgeberin Gabrielle hat sehr mitfühlend und entsetzt auf unsere Erlebnisse reagiert. Voll Hoffnung blicken wir der Begegnung mit ihr und ihrem Mann Edvin entgegen. Beide lehren an der nahen Hochschule.
In der S-Bahn sehen wir zum ersten Mal bewusst, wie berückend schön die Anden sind. Der Schnee auf den Spitzen kommt uns unwirklich vor, schließlich ist es brütend heiß. Und das im November. Wir denken an die Novemberstimmungen, die wir gewohnt sind. Das zaubert ein dauerhaftes Lächeln in die Gesichter. Trotz allem.
Der öffentliche Nahverkehr in Santiago ist wirklich bemerkenswert. Bis jetzt haben wir nirgendwo in der Welt so saubere U-Bahnen gesehen, die Menschen sitzen auf dem Boden, wenn es zu voll wird, warum auch nicht? Es ist viel gemütlicher, wir tun es auch und lauschen den Musizierenden in der Bahn, die mit Andenklängen oder Klassik sehr professionell die Fahrt versüßen. Musikstudierende verdienen sich so etwas dazu, ein Genuss. So vergehen die langen Strecken wie im Fluge. Die Stationen sind alle voller Kunst, mit riesigen Gemälden, Skulpturen und Installationen wie einem wunderschönen Film über eine sehr alte Frau, die auf einer Straße Santiagos virtuos E-Piano spielt. Das Aussteigen ist immer wieder wie das Betreten eines Museums.
Manchmal tragen auch Mormonen gerne Bier
Im Viertel Puente Alto, wo Gabrielle und Edvin leben, laufen wir erst einmal in die falsche Richtung. Aber zwei gut gekleidete junge Herren, retten uns. Sie fragen, ob sie uns helfen können. Aber gerne! Wir drücken ihnen einen riesigen Koffer in die Hand und ein Sixpack deutsches Bier, das wir unserer Couchsurfing-Gastgeberin als Geschenk mitbringen wollen. Dann merken wir erst: Es sind Mormonen! Mormonen und Alkohol?! Wir fragen. Aber nein, Alkohol tragen ist gar kein Problem! Fein. Und dass wir ein homosexuelles Paar sind? Schmunzeln wir. Nein nein, de nada, wir sind doch alle Kinder Gottes. Das sehen wir auch so, ganz beschwingt. Die Welt verändert sich.
Aus dem ‚Haus mit Palme und lila Blume` tritt Gabrielle – Ende zwanzig, quirlig, ursprünglich aus dem Norden der USA stammend – und nimmt uns herzlich in die Arme. Was für ein Empfang! Wir sind uns gleich sympathisch. Im lauschigen Innenhof mit Zitronenbaum bauen die Kinder mit allem, was sie finden, glücklich los und wir richten unsere Zimmer ein. Mehrzahl! Ja, wir haben wirklich zwei kleine Zimmer und ein eigenes Bad mit Wanne! Nach den düsteren Stunden vorher, ist das wie das Erreichen eines Paradieses.
Gabrielles Mann Edvin, ein zurückhaltender Chilene mit Eltern aus dem Süden Chiles, ist ebenso liebenswert wie Gabrielle. Wir kochen gemeinsam, haben ähnliche Lebensthemen, der Abend wird lang. Es fühlt sich für alle so an, als würden wir uns schon länger kennen und dass es einen Altersunterschied gibt, ist nicht spürbar. Wir haben es endlich richtig gut getroffen. Die Kinder glauben, dass wir hier einziehen und genießen dieses Gefühl. Nach dem Diebstahl sind Gabrielle und Edvin und ihre Gastfreundschaft wie ein warmer Regen auf unsere gebeutelten Seelen.
Die beiden helfen uns bei den anstehenden Polizeigängen und bei den Versuchen, unsere Kamera zu ersetzen. In den Malls, in denen wir in den nächsten Tagen furchtbar viel Zeit bei weiteren langwierigen Wiederbeschaffungsmaßnahmen der Geräte verbringen, ist schon lange Weihnachtszeit. Wie bei uns quillt alles über von Lichtern und roten Schleifen. Rentner mit dicken, roten Mänteln und weißen Bärten verdienen sich schwitzend etwas dazu, in dem sie sich mit aufgeregten Kindern fotografieren lassen und Wunschzettel entgegennehmen. Auch unsere Kinder lassen sich bezaubern. „Weihnacht! Weihnacht!“ kräht Theo von nun an unablässig. So lässt sich die grauenhafte Shopping-Glitzerwelt aushalten.
Gabrielle hat ein höchst professionelles Papier für Couchsurfer aufgesetzt, auf dem wir von den schönsten Ausflügen in Santiago erfahren. All das braucht Zeit, viel Zeit, die wir ja auch haben, aber ist es in Ordnung, so lange bei den beiden zu wohnen? Ja, das ist es. Wir sind erstaunt und beglückt. Wir bekommen sogar vertrauensvoll den Hausschlüssel, als die beiden zu ihrem monatlichen Ehe-Ritual aufbrechen. Zu Vollmond unternehmen sie immer etwas ganz Besonderes und feiern ihre Liebe.
Das Ritual finden wir großartig. Dieses Mal geht es für die beiden in die nahen Berge, ins Cajon de Maipo. Wir hüten das Haus und kommen endlich an, in Südamerika, in Chile, in diesem schönen Land, das uns fast drei Monate beherbergen wird.
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