Sinnfragen in Montréal

Sinnfragen in Montréal - In MontréalMontréal empfängt uns mit Klaviermusik aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“, als wir aus der U-Bahn steigen. Auf dem Platz Ecke Rue Berri und Rue Gilford, und nicht nur dort, hat die Stadt für den Sommer ein Klavier aufgestellt. Und alle, die Lust haben, können sich dransetzen und spielen – was für ein Empfang!

In der Nähe wohnt Ariane, die unsere nächste Couchsurfing-Gastgeberin ist. Ob wir sie treffen, ist allerdings noch ungewiss, denn – Tücke beim Couchsurfing – sie hat auf unsere letzten Nachrichten nicht geantwortet und so müssen wir uns auf eine Verabredung verlassen, die schon ein paar Wochen alt ist. Zum Glück haben wir die Adresse irgendwann ganz altmodisch auf einen Zettel geschrieben, denn das Couchsurfing-System hat auch jegliche Kontaktinformation von Ariane verschluckt.

Die Telefonnummer fehlt auf unserem Zettel, weswegen wir einfach ohne uns anzukündigen zu ihrer Adresse gehen. Doch wo klingeln? Keine Namen, nirgends. Also, auf gut Glück! Und das Glück ist bei uns, denn schon beim ersten Versuch liegen wir richtig. Und richtig war auch unsere Vermutung, dass sie uns nicht wirklich erwartet. Überraschung! “Ihr seid da!? Ich habe nicht mehr mit euch gerechnet, weil ich nichts von euch gehört habe!” Oh nein, unangenehm! Ariane nimmt uns jedoch die Peinlichkeit, indem sie sich ehrlich über unsere Ankunft freut. In aller Eile räumt sie sogar ihr Schlafzimmer für uns, erklärt uns die wichtigsten Dinge in der Wohnung. Dann rennt sie fort, um ihren anderthalbjährigen Sohn Mathys vom Kindergarten abzuholen.

Wie Marin in Toronto ist auch sie Sinnfragen in Montreál - Ariane, © Ariane Genet De Miomandreeine alleinerziehende Mutter und Mathys ist ein toller Spielkamerad für unsere beiden Jungs, abgesehen davon, dass sie jede Menge Spielzeug hat – sowie ein Faible für Picknicks, das erfahren wir kurz nach ihrer Rückkehr. Bepackt mit Tupperdosen voller vegetarischer Köstlichkeiten geht es zum nächsten Park mit angeschlossenem Spielplatz. Wir sind nicht alleine, das weitläufige Gelände ist gut besucht, ganz Montréal picknickt und feiert draußen.

In der Dunkelheit leuchtet es aus vielen Ecken, die Kinder genießen es, so lange aufbleiben zu dürfen und Anton bekommt einen Luftballon von einem nahen Geburtstag geschenkt. Zum Nachtisch wird eine Flasche Rotwein entkorkt – ja, so lässt es sich leben. Couchsurfing gefällt uns sehr.

Zu Hause erzählt uns Ariane aus ihrem Leben. Wie viele Mütter ist auch sie zerrissen, zwischen dem Wunsch beruflich weiterzukommen und trotzdem eine gute Mutter zu sein.Sinnfragen in Montreál - Arianes Theatertruppe "Compagnie Mythomanie", © Ariane Genet De Miomandre Ariane ist selbstständige Kostümbildnerin und Autorin mit eigener Theatertruppe. Sie brennt für ihre Arbeit – und sie liebt ihren Sohn. Um beides unter einen Hut zu bekommen, arbeitet sie viel nachts. Es reicht ihr, so sagt sie, nachts nur drei oder vier Stunden zu schlafen.

Diesen Weg habe ich nach der Geburt meiner Kinder auch eingeschlagen. Gezwungenermaßen. Denn unser erster Sohn war ein schlechter Schläfer. Im ersten Jahr bekam ich selten mehr als drei oder vier Stunden Schlaf am Stück, manchmal auch gar nicht. Parallel habe ich voll gearbeitet, denn ich habe nur eine dreimonatige Babypause gemacht. Wie ich das geschafft habe? Nicht gut. Rückblickend muss ich zugeben, dass mich der Versuch, Job und Familie gleichermaßen gerecht zu werden, an den Rand eines Burn-Outs gebracht hat. Besonders der ständige Schlafentzug, der ja auch eine Foltermethode ist, hat mich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen gemacht. Ich habe mich jedenfalls bei vielen Freunden entschuldigen müssen und auch Alex musste Langmut beweisen. Danke.

Warum ich mir diese Zerreißprobe angetan habe? Zum einen sah ich mich schlicht wirtschaftlich gezwungen. Alex ist berentet, ihre Klavierstunden plus Gemüse- und Teeanbau bringen nicht viel ein. Ich hingegen habe in meinem Job gut verdient. Obwohl über das damals neu eingeführte Elterngeld ein Jahr lang 65 Prozent meines Einkommens kompensiert worden wären, war der teilweise Wegfall meines Einkommens für uns nicht vorstellbar. Für Miete, Versicherungen und Lebenshaltungskosten hätte das Geld nicht gereicht.

Zum anderen hatte ich einfach Sorge, dass ich, wenn ich für ein Jahr aussteige, ersetzt werden könnte. Als feste Freie beim NDR hatte ich keinen Anspruch auf meinen Job. Es werden Jahresverträge geschlossen und die können schnell gekündigt werden. Wie berechtigt meine Sorge war, habe ich dann beim zweiten Sohn erlebt. Aus den gleichen Gründen war ich auch nach seiner Geburt nur drei Monate ausgestiegen. Kaum wieder zurück hieß es, der Vertrag wird nicht verlängert. Mutterschutz? Fehlanzeige.

Wie sieht nun ein erfülltes Leben aus? Um diese Frage kreisen wir, nachdem wir die Kinder ins Bett gebracht hatten. Als alleinerziehende Mutter steht Ariane noch vor ganz anderen Herausforderungen und es erfüllt mich generell immer wieder mit Respekt, was alleinerziehenden Mütter leisten. Eigentlich, so denke ich, haben sie alle die höchsten Auszeichnungen verdient. Abgesehen davon, dass sie sich für jeden Managerposten empfehlen, denn was Leistung, Organisation und Einsatz angeht, macht ihnen niemand etwas vor.

Sinnfragen in Montreál - Ariane und Mathys, © Ariane Genet de MiomandreTrotzdem ist auch Ariane auf der Suche nach einer Alternative. Sie weiß, ihr altes Leben kann sie nach der Geburt von Mathys nicht weiterleben. Soll sie eine Ausbildung zu einer Lehrerin machen, um ein geregelteres Leben zu führen? Generell weniger arbeiten? Arbeiten, um zu leben? Oder leben, um zu arbeiten? Karriere oder Kind?

Karriere UND Kind – das schaffen die wenigsten. Und nur, das zeigt die Forschung, wenn sie sich beidem ausschließlich widmen. Freizeit, Freunde, gemeinsame Zeit als Paar, das gibt es bei diesen Paaren nicht mehr. Kein Wunder, dass das nicht wirklich erstrebenswert ist, abgesehen davon, dass sich wirkliche Top-Positionen am Ende doch nur mit Unterstützung durch Kindermädchen und Haushaltshilfen erreichen lassen. Und für Frauen in normal bezahlten Berufen ist solch eine Unterstützung sowieso nur ein Traum.

So landen viele Frauen in der typischen Zwickmühle: Karriere oder Kind. Frauen, die bis sie Mütter wurden natürlich über ein eigenes Einkommen verfügten und von Gleichberechtigung und Chancengleichheit überzeugt waren, übernehmen meistens ganz selbstverständlich die Haupt-Aufgaben in der Kinderbetreuung. Und ohne es je gewollt zu haben, finden sie sich in der traditionellen Aufgabenverteilung wieder. Plötzlich merken sie: Gleichberechtigung, Chancengleichheit – das alles gilt nicht für Mütter.

Sind es also die Umstände, die uns bestimmen? Ohne jeglichen Zweifel fehlt es für Mütter in Deutschland an finanzieller und organisatorischer Unterstützung – abgesehen davon, dass es auch an Anerkennung mangelt. Elisabeth Beck-Gernsheim, Soziologin der Universität Erlangen-Nürnberg, forscht seit Jahren auf dem Gebiet Arbeit und Familie und hat den Druck, den die individualisierte Leistungsgesellschaft auf Frauen ausübt, in ihrem Buch “Die Kinderfrage heute” gut beschrieben. Interessanterweise sieht sie die Einführung der Pille als ausschlaggebend. Denn, so Beck-Gernsheim, mit der Pille ist den Frauen die Möglichkeit der Kinderplanung ist die Hand gegeben. Wie janusköpfig die Pille ist, zeigt sich seitdem. Denn bei aller Befreiung  haben Frauen nun eben auch die alleinige Verantwortung dafür, wann und ob sie Kinder bekommen. Und diese weitreichende Entscheidung will gut geplant sein, wer will schon die Karriere durch Kinder in Gefahr bringen?

Hinzu kommt die Gleichberechtigung, die seit Jahren nur in Tippelschritten vorankommt. Fraglos engagieren sich Väter in Deutschland mehr als vor 20, 30 Jahren – allerdings, so sagt die Forschung, eher als Freizeit- und Spielväter. Routinetätigkeiten, Versorgungsaufgaben und die Organisation des Alltags bleiben vorwiegend im Zuständigkeitsbereich der Mutter. Da sind die Bedingungen, die das Alleinverdienermodell stabilisieren: das Ehegatten-Splitting im Steuerrecht, die Herdprämie, die Halbtagsschule im Bildungssystem, der allgegenwärtige Rabenmutter-Verdacht, mit dem berufstätige Mütter zu kämpfen haben. Und dann sind da auch noch die regelmäßigen Debatten über den Geburtenrückgang und die Zukunft der Renten, gerne verknüpft mit Lobliedern auf das Glück des Mutterseins. 

Sinnfragen in Montreál - in Whaririki, NeuseelandIm Unterschied zu Ariane wollte ich immer Mutter sein. Es gab für mich nie einen Zweifel daran. Geplant haben wir auch, klar. Einmal mehr, weil wir als Frauenpaar nun nicht so einfach mal so Kinder bekommen. Wir hatten Glück, denn wir haben rechtzeitig ein schwules Paar gefunden, das sich auch Kinder wünschte und die Lust und Zeit hatten, Verantwortung zu übernehmen. Was dann auf mich und uns als Familie zukam, das konnte ich natürlich nicht ahnen. Wie fühlt es sich an, Mutter zu sein? Wie lässt sich das jemandem vermitteln, der es nicht selbst ist?

Wir haben unser Bestes gegeben. Ich habe versucht, Kind und Karriere möglich zu machen und bin sicher an den Umständen gescheitert – aber auch an mir selbst. Wie viele erfolgreiche Frauen, neige auch ich zum Perfektionismus. Auf ihm basiert ein Teil meines Erfolges – er hat mir in diesem Punkt jedoch das Genick gebrochen. Bis zur Erschöpfung habe ich versucht, meine mir selbst gesetzten hohen Job-Standards einzuhalten. Ohne Rücksicht auf Verluste. Im Einzelkämpferinnen-Modus. Sonst überaus kommunikativ war ich plötzlich unfähig, meine Nöte zu formulieren.

Und so fühlte ich mich bald allein, frustriert und unzufrieden – ein Zustand, den viele Mütter kennen. War es ein Fehler, für den Job, den ich schließlich trotzdem verloren haben, solch einen Raubbau an mir selbst zu betreiben? Ich weiß es nicht. Denn meine Arbeit hat mir ja auch Spaß gemacht. Ich wollte nie ausschließlich Mutter sein, ich brauche es, auch mal das Hirn einzusetzen, erwachsene Gespräche zu führen, nicht immer nur ums Kind zu kreisen. Das war für mich immer auch eine Erleichterung.

Heute weiß ich, ich möchte mich nicht noch einmal so nach der Decke strecken. Ich möchte Zeit haben für meine Kinder, ich möchte nicht den Job vor sie und die Familie stellen. Ich möchte arbeiten, um zu leben, nicht andersherum. Wie mein zukünftiges berufliches Leben aussehen soll? Keine Ahnung. Macht mir das Angst? Ganz zu Beginn, natürlich. Inzwischen, nach über einem halben Jahr unterwegs und nach vielen Gesprächen mit Menschen in ähnlichen Situationen, ist es ein Zustand, der sich herrlich anfühlt. Mit Anfang 40, mit all meiner Lebenserfahrung und meinem Wissen, noch einmal wählen zu dürfen, in welche Richtung es gehen soll, empfinde ich als großes Geschenk!

 

Petra

2 Kommentare zu “Sinnfragen in Montréal

  1. Tina

    Ist schon komisch, dass man manchmal erst so weit weg muss, um zu verstehen, wo’s hakt. Aber besser so als nie. Ich wünsche dir/euch alles Gute und dass ihr das so hinkriegt, wie es für euch am besten ist. Toi, toi, toi!!!