Wir sind in Alexandria/ Ontario. Seit einigen Tagen couchsurfen wir bei Chantal und Carolyn, ein lesbisches Paar mit zwei Töchtern, sechs und vier Jahre alt. Chantal arbeitet als Flugbegleiterin bei der Air Canada, Carolyn kümmert sich – voll Hingabe – um Cassiopeia und Aurora. Als wir ankommen, ist Chantal gerade dienstbefreit. Sie leidet unter starken Allergien und kann aufgrund der aktuellen extremen Beifußblüte das Haus nicht verlassen. Ausflüge ins weitere und nähere Umland unternimmt daher Carolyn mit uns. Wir sind uns schnell nahe gekommen, die fraglose Zugewandtheit von Carolyn und Chantal wirft uns ein ums andere Mal um: Natürlich fährt mich Carolyn ins 120 km entfernte Montréal, um unser Mietauto zu holen, mit dem wir nach unserem Aufenthalt bei ihnen weiter Richtung Norden fahren wollen. Selbstverständlich lässt sie Alex, die gerade erst ihren Führerschein gemacht hat, mit ihrem geliebten alten, riesigem Chevy durch die Straßen Alexandrias fahren. Wir können so viel Freundlichkeit gar nicht fassen.
Unser Zusammenleben fühlt sich an wie in einer großen, eingespielten WG, auch, weil sich unsere Familienkonstellation gleicht. Wir müssen uns nicht erklären, sie müssen sich nicht erklären. Angenehm. Die Kinder sind sich auch ohne gemeinsame Sprache herrliche Spielkameraden. Und für uns ist es einfach schön, zu sehen, wie sehr es Cassiopeia und Aurora genießen, zwei Mütter zu haben. Kein Wunder, denn insbesondere Carolyn ist überaus lustig. „Mom is the funniest!“ kreischt Aurora, wenn sie einen ihrer Späße macht. Und auch unsere Jungs schließen sie gleich ins Herz. Sie fährt mit uns schwimmen an den nahen See, wir entdecken mit ihr die herrlichen Splash-Parks, öffentliche Spielplätze mit Wasserspielen – warum gibt’s das eigentlich nicht bei uns? – sie bereitet köstliche Fajitas, macht mit Theo Babyspäße und er füttert sie zum Dank mit großen Mengen Toast.
Als weitere Attraktion baut Carolyn eines Abends ein Zelt auf, damit die Kinder drin schlafen können, wenn sie wollen. Begeisterung auf allen Ebenen, ein kuscheliges Deckenlager ist bald errichtet, Carolyn und die Mädchen sind bettfertig und natürlich wollen auch unsere Jungs mit im Zelt schlafen. Mutig, mutig, denken wir und freuen uns insgeheim auf eine Nacht ohne Kinder. Gleichwohl erstaunt es uns nicht, dass sie dann wenig später in ihren Schlafanzügen vor der Tür stehen und doch lieber mit uns einschlafen wollen.
Dass Anton Carolyn eines Tages zum Kaninchenstreicheln begleiten darf, ist ein neuerliches Highlight – der tägliche Ausflug ist überaus begehrt bei Cassiopeia und Aurora, die nun aber zu Hause bleiben müssen. Die Tiere vertragen keinen Stress. Eine Nachbarin, eine Tierretterin, hat gefühlt tausend Kaninchen und eine Menge Katzen in ihrem Haus und einem angemieteten Stall wohnen. Weil die Frau eine Auszeit brauchte, kümmert sich jetzt Carolyn um den Zoo. Anton und Alex helfen, die den akribisch angefertigten Essenplan für die Viecher umzusetzen.
Unabhängig vom Spaß, den wir alle miteinander haben, verbinden uns mit Carolyn und Chantal natürlich viele gemeinsame Themen: Wie funktionieren unsere Familien? Welche Unterschiede gibt es? Ähnlich ist die Aufgabenverteilung. Wie bei uns vor der Reise, gibt es auch bei Carolyn und Chantal nur eine, die das größte Familieneinkommen heranschafft. Dei Verantwortung liegt allein auf Chantals Schultern – ein zerbrechliches Konstrukt, wie ich nach Kündigung meines Vertrages beim NDR erlebt habe. Wie geht sie mit der Doppelbelastung Job und Familie um, frage ich Chantal? Ganz gut. Denn Carolyn hat von Anfang an die Mutterrolle übernommen. Das war Teil ihrer Abmachung: „Du machst die ersten neun Monate, ich mache die nächsten 18 Jahre.“
Das verflixte Gezerre, das ich so gut kenne, wenn ich abends vom Job nach Hause kam und erst nur eins, später beide Kinder an mir hingen, weil sie Zeit mit mir – und nur mit mir! – verbringen wollten, kennen Carolyn und Chantal so nicht. Ich bin ein wenig neidisch, denn die Auszeit, die sich auch viele heterosexuelle Väter gerne nach ihrem anstrengenden Arbeitstag gönnen und der Mutter die abendliche Kinderbetreuung zuschieben, war für mich schlicht nicht drin. Im Versuch, alle Rollen gleichzeitig zu übernehmen, habe ich mich aufgerieben. Gleichzeitig fühlte sich Alex in der doch recht traditionellen Rollenaufteilung arg gefangen und eingesperrt. Alles in allem keine gute Situation – und das, obwohl wir noch Väter mit im Boot haben, die uns zumindest einmal in der Woche die Kinder abnehmen.
Carolyn und Chantal haben ihre beiden Mädchen per Samenspende empfangen. Diskussionen mit Vätern bleiben ihnen so erspart, aber auch der freie Tag, den wir, wenn wir nicht gerade auf Weltreise sind, wöchentlich haben. Dass wir reale Väter für unsere Kinder wollten, war hingegen für uns von Anfang an klar. Wir wollten etwaige Fragen nach Identität und Zugehörigkeit immer beantworten können. Dass wir tatsächlich zwei Väter gewinnen konnten, die uns aktiv unterstützen, ist ein großes Glück für uns.
Natürlich ist unsere Konstellation mit zwei Vätern im Gepäck auch konfliktanfällig und wir können verstehen, dass Carolyn und Chantal sich in Erziehungsfragen einfach nicht noch mit anderen auseinandersetzen wollen. Uns ist unser “day off” jedoch heilig, lässt er uns trotz Elternschaft doch als Paar existieren. Ihn auf Weltreise nicht mehr zu haben, war etwas, vor dem wir uns bei der Planung unseres Abenteuers fürchteten.
Inzwischen sind wir seit sechs Wochen unterwegs, wir sind eingespielt und erstaunlicherweise ist Reisen mit Kindern nicht so anstrengend, wie wir erwartet hatten. Es liegt wohl daran, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht zwischen Job, Haushalt, eigenen Interessen und denen der Kinder aufteilen müssen. Außerdem leben wir im Rhythmus der Kinder: Wir machen Pause, wenn sie müde sind, wir essen, wenn sie hungrig sind, wir vermeiden allzu Anstrengendes – und gewinnen eine völlig neue Reisequalität. Ohne Kinder haben wir auf Reisen gerne stundenlange, viel zu anstrengende Erkundungstouren unternommen, haben dabei viel zu wenig gegessen und ausgeruht. Wenn du mit Kindern reist, bleibst du automatisch innerhalb deiner Grenzen. Komisch eigentlich, dass viele Angst vor dem langen Reisen mit Kindern haben.
Trotzdem ist die andauernde Präsenz von Kindern – auch wenn sie noch so niedlich sind – irgendwann anstrengend. Seit wir reisen, freuen wir uns umso mehr auf die gemeinsamen Stunden, die bleiben, wenn die Kinder schlafen. Wenigstens kurz mal als Erwachsene agieren, ungestörte Gespräche führen, uns als Paar spüren, das ist wichtig und notwendig. Dass gemeinsame Paar-Zeit für Chantal und Carolyn ein Gut ist, das sie sich offensichtlich selten gönnen, merken wir schnell. Gewöhnlich gehen die beiden mit den Kindern ins Bett. Zu erschöpfend ist der lange Tag mit den Kindern.
Im Unterschied zu uns, die wir unsere Jungs früh in die Kita gegeben haben – auch weil wir das frühe Lernen von Sozialkompetenz in einem kleinen, geschützten Rahmen wichtig finden – sind die beiden Mädchen von Carolyn und Chantal den ganzen Tag zu Hause. Carolyn, die sich Vollzeit um die Kinder kümmert, ist nicht nur Mutter und Hausfrau, sie ist auch die Lehrerin von Cassiopeia und Aurora. Carolyn und Chantal praktizieren Homeschooling.
Das Konzept ist erst einmal gewöhnungsbedürftig für uns. Deutsche Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, geraten in Konflikt mit dem Staat, wo seit der Weimarer Republik Schulpflicht herrscht. Heimunterricht ist in Deutschland aber interessanterweise erst seit 1938 verboten – ein Relikt aus der Nazizeit. Diktaturen brauchen Gleichschaltung. Seitdem dürfen Kinder in Deutschland nicht mehr zu Hause unterrichtet werden – im Gegensatz zu fast gesamt Europa, wo Bildungspflicht herrscht, was bedeutet, das Kinder Zugang zu Bildung haben müssen, egal auf welchem Weg. Gerade stark religöse Eltern haben immer wieder medienwirksam gegen die Schulpflicht verstoßen. Es gab Gerichtsverfahren, die mit Bußgeldern für die Eltern endeten und zum Teil auch mit Erzwingungshaft. Homeschooling ist doch eigentlich nur etwas für religiöse Fanatiker, so ist auch unser Bild.
Carolyn und Chantal finden wiederum die deutsche Schulpflicht geradezu verrückt, wenngleich sie die Qualität der Ausbildung schätzen. Sie kritisieren die Gleichschaltung in der Schule, das Lernen nach Plan, unabhängig von den Interessen und dem Entwicklungsstand des Kindes. Abgesehen davon zeigten Untersuchungen, dass Heimschüler im Vergleich zu “normalen” Schülern um Längen besser abschneiden. Sie sind generell motivierter, sie lernen sehr viel schneller und bei Prüfungen, die sie ohnehin auch viel früher absolvieren, sind sie erfolgreicher. Amerikanische und kanadische Universitäten würden sich um diese Schüler reißen. Tatsächlich hat 2009 eine großangelegte Studie in den USA belegt, dass zu Hause unterrichtete Schüler bessere schulische Leitungen erbringen. Knapp 12.000 Schüler wurden dafür in ihren Lesekompetenzen, ihren sprachlichen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Fähigkeiten sowie in ihren Kompetenzen in den gesellschaftlichen Fächern getestet. In jedem dieser Bereiche erreichten die Heimschüler durchschnittlich 84 oder mehr Prozent. Die am Schulunterricht teilnehmenden Schüler erzielten durchschnittlich nur rund 50 Prozent.
Viel Stoff zum Nachdenken, bin ich doch selbst nicht wirklich vom deutschen Schulsystem überzeugt. Doch, so fragen wir Carolyn und Chantal, wie lernen ihre Kinder ohne das soziale Gefüge der Schule, in Gruppen zu agieren, wie mit Streit und Aggression umgehen? Wie lernen sie Freundinnen und Freunde kennen? Aurora und Cassiopeia sind wöchentlich bei den Pfadfindern, antworten ihre Mütter. Sie haben außerdem Freunde aus anderen Homeschooling-Familien, mit denen sie sich regelmäßig beim Schwimmen, beim Fußballspielen, bei archäologischen Exkursionen oder bei ähnlichen Bildungsangeboten treffen. Zum Beispiel ist es durchaus üblich, dass die Eltern von Heimschülern sich zusammentun und gemeinsam einen Kurstag zu einem bestimmten Thema bei einem Uniprofessor buchen, um ihren Kindern, wenn sie vorher Interesse an dem Themengebiet zeigen, den besten Einblick von einem auch noch höchst motivierten Lehrer zu verschaffen.
Abgesehen davon, so fragen Carolyn und Chantal, warum sollten sie Aurora und Cassiopeia bewusst möglichen Aggressionen und Anfeindungen aussetzen? Die beiden Frauen haben aufgrund ihres Andersseins selbst Ausgrenzungen erlebt, wissen, wie hart Kinder untereinander sein können, wenn jemand anders ist. Ähnliches wollen sie ihren Kindern nicht zumuten, die dadurch, dass sie mit zwei Müttern aufwachsen, exponiert genug sind.
Wir sind froh, dass wir uns bislang um unsere Kinder keine Sorgen machen mussten. Wir haben noch nicht erlebt, dass unsere Jungs ausgegrenzt wurden, weil sie uns als Mütter haben. Wir haben eher „positive Diskriminierung“ erlebt: In Altona, wo wir damals noch gelebt haben, wurden wir in der von uns favorisierten Kita, in der Kinderkrippen-Plätze eigentlich nicht zu kriegen waren, ausgewählt, gerade weil wir ein lesbisches Paar sind. Die Leitung wollte Vielfalt in der Schmetterlingsgruppe. Und auch am Hamburger Stadtrand, wo wir jetzt leben, begegnen uns alle mit Offenheit und Toleranz. Das war von Anfang an so. Hoffen wir, dass das so bleibt.
Unsere Gespräche über Erziehung und Carolyns und Chantals Pro-Homeschooling-Argumentationen regen mich zum Neudenken an. Es ist immer schön, Vorurteile abzuwerfen. Zugleich ist die Vorstellung, für die Kinder auch noch Lehrerin zu sein, abschreckend. Ich bin schlicht keine Lehrerin, ungeduldig und aufbrausend, wie ich sein kann. Außerdem habe ich es doch auch als Vorteil gesehen, nach der Geburt der Kinder früh wieder arbeiten zu gehen – einfach, weil mir die Welt der Erwachsenen gefehlt hat. Jetzt ein Jahr lang ausschließlich mit der Familie und den Kindern zu sein, ist eine Herausforderung, von der ich nicht weiß, wie wir sie meistern werden.
Bislang und jetzt bei Carolyn und Chantal läuft alles hervorragend, aber mir ist bewusst, dass die wahren Aufgaben noch vor uns liegen. Umso mehr genießen wir jetzt einfach die Leichtigkeit des Seins in Alexandria, wo wir insgesamt eine Woche verbringen. Wir bleiben sogar länger als geplant. Denn als wir von ihnen erfahren, dass ein Tag nach unserer geplanten Abreise in der Nähe ein großes Indianer-Powwow stattfinden soll, nehmen wir ihre Einladung natürlich an und verlängern. Zu sehr lebt Anton zur Zeit in seiner Indiander-Parallelwelt. Als wir schließlich fahren, sind wir sicher, wir haben Freundinnen fürs Leben gefunden. Wir werden uns wiedersehen.
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