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Familienwalz - home sweet homeEgal, wo wir hinkommen, ob in Europa, Nord- oder Südamerika – und wir werden sicher überall auf der Welt die gleiche Erfahrung machen – kommt früher oder später das Gespräch auf die Kindheit, die Jugend, die Familie. Die Menschen erzählen uns die Dramen, die sie mit sich tragen. Wir wissen zwar um die „Normalität“ von Gewalt in Familien, körperliche Gewalt, auch sexuelle Gewalt, besonders gegen Mädchen und Frauen, aber die Regelmäßigkeit dieser Lebensgeschichten konfrontiert mit der Realität. Gewalt ist überall, auch sexuelle Gewalt, überall auf der Welt. Auch Jungs sind betroffen, jeder Siebte wurde sexuell missbraucht. Jede dritte Frau muss mit sexuellen Gewalterfahrungen leben. Schau dich um, deine Familie, dein Freundeskreis, zähle durch. Man mag es nicht glauben – vor allem „man“ weniger „frau“, zu extrem scheinen die Zahlen, zu berührend ist das Thema, zu sehr möchten wir leugnen.

Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Viele reden nicht darüber, viele erinnern es nicht. Oft macht sich das Thema in der Mitte des Lebens bemerkbar, wenn die eigenen Kinder in jenem Alter sind, in dem der oder dem Betroffenen etwas passiert ist. Oft treten dann Erkrankungen, Depressionen oder andere psychische Probleme auf. Körperliche Erkrankungen haben auch seelische Komponenten, die lange zurückliegen oder verdeckt sein können. Ständige Verspannungen, Gelenkprobleme, die Neigung zu Rücken-, Bauch- oder Kopfschmerzen und eine grundsätzlich erhöhte Anspannung haben oft tiefere Ursachen. Die oft unerkannt bleiben, unberührt und ungeheilt und sich nur durch körperliche Symptome ausdrücken.

Wenn wir auf unserer Reise mit Menschen ins Gespräch kommen, geschieht es oft, dass sie sich öffnen und beginnen, ihre Geschichten zu erzählen. Seien es unsere Gastgeber, seien es zufällige Begegnungen. Sie sind keine Ausnahmen. Es ist einfach überall. Wir wissen das, dennoch ist es schockierend, dass wir ständig mit diesen Geschichten konfrontiert werden. Es ist neu, dass die Menschen sich trauen zu erzählen. Vorbei ist die Zeit, in der alles verschwiegen wurde. Aber immer noch schweigen Kinder, Jugendliche und Erwachsene viel zu oft und dieses Schweigen vergiftet.

Familienwalz - home sweet homeEs sind so viele Geschichten, so viele Menschen, dass ich mittlerweile überzeugt davon bin, dass mehr Leute misshandelt wurden als friedlich aufwachsen durften. Dazu kommt das Schlagen, mit der Hand, mit dem Stock, mit Peitsche. Unglaublich? Nicht bei uns? Frag doch nach. In den USA hören wir von einer persönlichen Geschichte, aus einer christlichen Familie, in der aus Erziehungsgründen regelmäßig schwerst misshandelt wurde. Ein Zitat war: „Wer sein Kind nicht schlägt, der erzieht es nicht richtig.“ Es gibt aktuelle Erziehungsratgeber, die befolgt, aber immerhin auch diskutiert werden, die das so genannte „Spanking“ propagieren, also das Schlagen mit Stöcken oder Peitschen. Schon ab einem Alter ab 18 Monaten. Das macht uns sprachlos. In unserer Welt scheinen solche Dinge lange der Vergangenheit anzugehören. Aber das Thema ist hochaktuell. Auch bei uns. Heute wird eher im Geheimen geschlagen, ist Kindesmisshandlung doch mittlerweile strafbar in Deutschland.

Geschichte wiederholt sich – oder du stellst dich den Dingen

Schlagen passiert oft aus dem Affekt heraus. Aus Hilflosigkeit, aus Verzweiflung, aus Wut. Aber eben auch, weil Menschen tatsächlich meinen, dass Gewalt einen Sinn haben könnte. Ich habe Opfer erlebt, die von sich behaupten: „Vielleicht wäre ich ohne Prügel auf die falsche Bahn geraten.“ So zu denken, tut weniger weh. Wenn es „sinnvoll“ war. Absurd. Eine Form von Verdrängung. Die Augen dieser Erzählenden sagen oft mehr als die Worte.

Früher war die so genannte schwarze Pädagogik noch alltäglich und allgemein akzeptiert, aber auch heute handeln „Erziehungsberechtigte“ manchmal noch genau so, es ist nicht zu fassen, aber die Realität. Auch, wenn es strafbar. Strukturelle Gewalt heißt das, Gewalt gehört immer noch zur Struktur unserer Gesellschaft. heraus. Geschlagen wird auch, weil die eigenen erlittenen Erfahrungen wiederholt werden. Dann fühlt es sich das Erlebte weniger schlimm an, dann lässt es sich weiter verdrängen. Dann wird es „normal“. Missbrauch, Gewalt, Unaushaltbares? Das sind immer „die anderen“.

Geschichte wiederholt sich, wenn nicht reflektiert wird, im Große wie im Kleinen. Wenn sich die grausamen Seiten der Menschheitsgeschichte nicht ständig wiederholen sollen, müssen wir handeln. Wachsam sein. Aufmerksam zuhören. Mitgefühl entwickeln. Unterstützung aufzeigen. Es ist lernbar, die Wahrheit auszuhalten. Die der anderen. Und die eigene. Heilungswege sind möglich und können Schritt für Schritt angegangen werden. Hilfe ist möglich. Hilfe zuzulassen muss oft erst gelernt werden, wenn das Selbstbild das einer starken, unabhängigen, toughen Frau und eines niemals schwachen, immer potenten, handlungsfähigen Mannes ist. Schwäche zuzulassen und daraus Stärke zu entwickeln, ist ein Prozess.

Familienwalz - home sweet homeSich der Vergangenheit zu stellen, bedeutet schon Stärke an sich. Das ist zunächst oft nicht einfach, zu extrem können die Folgen von erlebter sexueller Gewalt sein. So extrem, dass sich die Menschen nicht erinnern können. Oder so einschränkend, dass der Alltag schwierig wird. Es wieder und wieder zu erleben, zermürbt. In Träumen, in Flashbacks – filmartigen Erinnerungsblitzen – in Übertragungen in Beziehungen und alltäglichen Situationen, das sind nur einige der Auswirkungen. Die grundsätzliche Neigung zum Ausdruck des Seelischen im Körperlichen gehört zum Alltag von Gewalterfahrenen. Der Körper entwickelt Erkrankungen oder nicht deutbare Symptome. Alles schreit.

Eltern haben eine eigene Geschichte

Gewalterfahrene. Das ist ein Ausdruck, der mehr ausdrückt als das Opfer-geworden-sein. Es sind Erfahrungen. Die grausam sind und grausame Folgen haben, aber auch Kompetenzen entwickeln lassen können. Zum Beispiel Sozialkompetenz. Mit so einer Geschichte ist nichts anderes möglich, als sich mit der Grausamkeit der Welt zu beschäftigen und sie besser machen zu wollen. Kinder schützen zu wollen. Helfende Berufe zu wählen, erdende, kreative und wachsam zu sein einer gewaltsamen Umwelt gegenüber. Die oft subtil und im Verborgenen zuschlägt. Wir sollten die Augen aufhalten und eingreifen, auch mit der Gefahr, Ärger dafür zu bekommen. Wenn ein Kind merkt, dass es auch Menschen gibt, die sich für es einsetzen ist das schon eine wichtige Erfahrung, die prägen kann.

Aufmerksamer sich selbst gegenüber und den eigenen Reaktionen werden sowie die eigene Geschichte präsent und halbwegs verarbeitet zu haben, kann helfen, die eigenen Erfahrungen nicht weiterzugeben. Zu leicht wiederholt sich Geschichte.

Kinder können einen mitunter rasend machen, sie sind Meister im Piesacken, Provozieren und über die Grenzen gehen. Das ist eine Form des Lernens: Grenzen austesten, Grenzen gesetzt bekommen, Grenzen akzeptieren lernen. Das fällt zu Beginn sehr schwer und das Nicht-Akzeptieren ist eine Form der Selbstermächtigung. Das Kind fühlt, wie stark es schon ist, wie selbstständig, wie unabhängig. Dass es begrenzt wird in seinen Affekten, seinen starken Impulsen, ist auch eine Form der Fürsorge. Es ist ein, manchmal lautstarkes, Einhegen und es bringt ihm die Welt nahe, weil es sonst in dieser große Probleme bekommen würde. Eine angemessene Form zu finden, ist oft nicht einfach. Manche Kinder hören schneller, manche nicht. Dann nicht auszurasten, ist ein Kunststück. Es ist ein Spiel, die Provokation, etwas auf das wir uns einlassen können oder das wir an starken Tagen an uns abprallen lassen können. Das ist leichter gesagt als getan. Gewalt ist in jedem Fall keine Lösung. Wo ist der gesunde Menschenverstand geblieben, wenn Erziehungsratgeber das Schlagen verharmlosen und als ganz normale Form des Umgangs propagieren? Da braucht es keine großen Erklärungen, es ist einfach falsch. Wer selbst einmal geschlagen wurde, weiß, dass es nichts Gutes bewirken kann. Der Schlagende verliert die Achtung. Basta. Das ist das Gegenteil von Respekt.

Heilung braucht Zeit und tägliche Wege

Wer extreme Gewalt erfahren hat – und dazu gehören auch verletzende Worte, Worte der Herabsetzung, des Kleinmachens, der Überschreitung von psychischen und körperlichen Grenzen – heilt Zeit seines Lebens. Der Mensch, Körper und Seele, hat das Familienwalz - home sweet homeBestreben, ein Gleichgewicht herzustellen, eine so genannte Homöostase. Aber der Mensch hat auch die dumme Angewohnheit, Altes zu wiederholen. Weil diese Wege im Gehirn, im Denk- und Handlungsspek- trum, oft gegangen wurden, gewohnt sind, vertraut und somit leichter gangbar als „das Gute“. Deswegen ist es schwierig, wirkliche Veränderungen zu bewirken. Nur die ständige Wiederholung vermag das. Tägliche Heilungsarbeit wird erlernt – muss erlernt werden – Überlebensstrategien. Selbstfürsorge, ein Leben lang. Sich selbst helfen zu lernen kann auch bedeuten, dass du anderen besser helfen lernst. Zuerst einmal bedeutet das: Das Unaussprechliche auszusprechen und andere sprechen zu lassen. Es aushalten zu können. Sich gegenseitig zuzuhören, sich nahe zu sein, sich zu unterstützen. Strategien auszutauschen. Um zu überleben. Um immer besser und gut zu leben. Glücklich. Froh. Trotz allem. So lautet der Titel eines rundum gelungenen Buches über Heilung von sexueller Gewalt.

Kindheit sollte eher eine Zeit sein, in der sich Grundvertrauen entwickelt, Weltvertrauen. Die Welt ist gut, die Welt ist schön, die Welt ist wahr – ein pädagogischer Slogan. So schön wäre das. Die Realität sieht anders aus. Die Krone der Perfidität ist Gewalt in der ganz frühen Kindheit – und dazu gehört auch ein missbräuchliches Umgehen mit Kindern von Seiten der Mutter. Als Partner- oder Partnerinnenersatz. Wenn Zärtlichkeiten unangenehm sind, zu nah, einseitig. Abgründig. Oder wenn es in den Frauen noch eigene kindliche bedürftige Anteile gibt, die mit den eigenen Kindern befriedigt werden. Verdrängte eigene Geschichten. Das kann die Folge haben, dass alles übertragen wird und die eigene Last geringer. Die Kinder sollen möglichst klein bleiben sollen, niedlich, unkompliziert und das Schmusen bekommt eine ungute Komponente. Das ist gar nicht so selten. Aber auch Mütter sind zu gewalttätigen Extremen fähig, zu sexueller Gewalt – eine junge Frau aus Deutschland, ein zauberhaftes Wesen, bildhübsch, erzählte uns, dass ihre Mutter sie vermietet hat, als kleines Kind. Sie hatten wenig Geld. So, wie wir diese junge Frau erlebten, war das absolut glaubhaft. Da bleibt einem die Sprache weg. Und nur Sprache hilft, den ersten Schritt zur Heilung zu machen. Die Wahrheit auszuhalten. Nicht auf Abwehr zu stoßen, dem Thema gegenüber und der eigenen Person.

Kindheit – ein Ort des Grundvertrauens, Familienwalz - home sweet homeein ewiger Quell der guten Erinnerungen? So sollte es sein. Aber Weltvertrauen muss erst gelernt werden. Wie, in einer Welt voller Zerstörung, die Nähe ausbeutet? Die aufs Grausamste das Zarte zerstört, das Innere, die Kraftquellen und die Fähigkeit Menschen und der Welt generell zu vertrauen?

Viele bestreiten das Ausmaß von sexueller Gewalt. Zu extrem scheinen die Zahlen, kaum auszuhalten. Zudem will keiner einer Spezies angehören, die zu solchen Taten fähig ist. Verständlicherweise. Da wird oft abgeblockt. Doch das hilft keiner oder keinem. Wer sich aber vorstellt, was Vergewaltigungen anrichten, spürt die eigene Verletzlichkeit. Kein Mensch mag sich das vorstellen. Abwehr ist die Folge, nur zu gern wollen wir immer stark sein, unverwundbar. Undenkbar ist, dass es uns selbst passieren könnte, Gewalt erleben, hilflos sein, da hilft das Abblocken. Kein Mensch möchte gern solche Geschichten erfahren und wirklich mitfühlen. Doch das Leugnen ist ein weiterer Schlag ins Gesicht der Erzählenden. Dazu kommt: Jeder Menschen braucht immer wieder Unterstützung in seinem oder ihren Leben. Im Krankheitsfall, bei Kummer, in schwachen Stunden, in Krisen. Wir brauchen Unterstützung im Kleinen, von Partnern und Partnerinnen, der Familie, Freundinnen und Freunden, alle. Aber auch auf einer höheren Ebene, von der Gesellschaft, die uns umgibt, von der Welt. Alles auszusprechen, auf offene Ohren zu stoßen, anzukommen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und sich gegenseitig Kraft zu geben, das ist eine Möglichkeit und der Weg. Sehr oft erleben wir das auf dieser Reise und in unserem Alltag.

Dir ist nie etwas passiert? Glückwunsch. Hauptgewinn. Grund zum Feiern. Freu dich. Das ist außergewöhnlich. Oft beginnen sich die Menschen erst zu erinnern, wenn sie schon ein Leben hinter sich haben, Stabilität aufgebaut haben, eine eigene Familie. Wenn die eigenen Kinder in dem gleichen Alter sind. Dann wächst die Gefahr von Krisen, Burn-Outs, körperlichen Zusammenbrüchen, die ein Hinweis sein können. Und die Gefahr wächst, dass Opfer zu Tätern werden. Abwehr – eigene Gewalttäigkeit – hilft, das eigene Drama weiter zu verdrängen. Aber auch der Ausbruch von chronischen – und akuten – Krankheiten kann ein Ausdruck verdrängter seelischer Not sein oder eine entsprechende Komponente haben. Diese Komponente von Erkrankungen ist aber beeinflussbar und das ist eine große Chance. Familienwalz - home sweet homeAkute Krisen, Depressionen – und diese werden immer häufiger – oder andere psychische Krankheiten oder Auffälligkeiten können die Folge dieser Verdrängung sein und schreien nach Aufmerksamkeit und Bearbeitung. Die umgangssprachliche Bezeichnung von Symptomen weist seit jeher auf die psychosomatische Komponente hin. Etwas schlägt auf den Magen. Ist über die Leber gelaufen. Sitzt im Nacken. Eine Bürde ist zu tragen und der Rücken schmerzt. Das Herz tut weh, die Brust wird eng. Was hat dir den Atem verschlagen? Was ist los, wenn einem schier der Kopf platzt, immer wieder? Und welche Wut plagt, wenn einem die Galle überläuft? Sauer sein. Das ist auch körperlich möglich. Und Trauer sitzt den Menschen in den Knochen. Es lohnt sich, diesen Signalen zuzuhören, ihren nachzugehen, ihnen eine Stimme zu verleihen. Nur wer ausspricht, kann auch loslassen.

Ich bin stolz auf all diese mutigen Menschen, die sich uns so öffnen und ihre Geschichte erzählen. Auch ich bin heute mutiger, Wahrheiten auszusprechen. Ich weiß, dass ich nicht alleine bin, mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen. Seltener ist, wie gesagt, die friedliche, gewaltfreie Kindheit. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Menschen mit Gewalterfahrungen als Menschen mit besonderen Kompetenzen sehen könnte. Dass Erfahrungen Erfahrungen sind und kein Makel. Solche Erfahrungen können empfindlicher machen, aber auch empfindsamer. Einfühlsamer und hellsichtiger. Nicht immer, aber manchmal, und das sind Kompetenzen, die unsere Gesellschaft braucht. Mehr Mitgefühl, mehr Sensibilität, mehr Stärke aus der Weichheit heraus. Zu lange wird ausschließlich hart gekämpft, Zahn um Zahn. Kampfgeist aus Krisen heraus zu entwickeln, ist kein Makel, sondern eine Qualität. Und die Zeit der Scham ist vorbei. Das Thema ist in der Gesellschaft angekommen, wir können reden und wir können handeln. Zuhören ist ein Anfang. Und Kindern in der eigenen Umgebung gegenüber wachsam sein und Handlungsbedarf erkennen. Lehrerinnen erzählten mir, dass es regelmäßig zu Verdachtsmomenten kommt und dass sie sich mit diesem Thema sehr alleingelassen vorkommen.

Meine Heilungswege brauchten ihre Zeit, ich bin heute stolz darauf und auf mein jetziges Lebensgefühl von Gesundheit und Glück. Ich weiß, dass das Erinnern und Bearbeiten meiner Traumata das Ende von der schnellen Abwärtsspirale der MS war. Ich bin davon überzeugt, dass diese Themen mehr sind als eine kleine psychosomatische Komponente und dass es unabdingbar ist, diese Seiten der MS mehr zu erforschen. Multiple Sklerose heißt „Mehrfache Verhärtungen“, ich sehe das durchaus auch im seelischen Bereich. Autoimmunerkrankungen sind autoaggressiv. Aggression und Depression sind zwei Seiten einer gleichen Medaille.

Familienwalz - home sweet homeIm Jahr nach den Aufdeckungen meiner Geschichte, dem Beweinen, Betoben und Bekosen, zu Hause und während intensiver körperorientierter Psychotherapie, hatte ich sensationelle Kernspinergebnisse. Man bezweifelte die Diagnose der MS. Solche Ergebnisse hatte der Arzt weder erlebt noch davon gehört. Multiple Sklerose gilt als unheilbar. Schubförmige Verlaufsformen wie die meine sind zwar von Hochs und Tiefs gekennzeichnet und es gibt sogar Stillstände der Krankheit. Aber völlige Rückentwicklungen, das war ihm damals unbekannt. Mir war klar, dass es an diesem speziellem Jahr lag, an der Heilungszeit, dem vielen Guten, das ich mir angedeihen ließ und den bearbeiteten Dramen, die ich hinter mir hatte. Durch die Diagnose, besser: die Diagnosen, denn die Magen-und Darmkrankheit Morbus Crohn war mir auch noch begegnet – und wieder gegangen – hatte ich Zeit zum Bearbeiten. Und wirklich Grund dazu. Dadurch, dass ich unfreiwillig berentet wurde, konnte ich diesen Dingen viel Zeit widmen. Wohl genügend. Das heißt nicht, dass ich mich ständig im Elend gewälzt habe. Das musste auch sein, mit allem, was dazu gehört. Aber vor allem widmete – und widme – ich mich dem Guten, dem Lustvollen, dem Positiven. „Alles Schlechte raus, alles Gute rein“ – bringt diese Zeit auf eine kurze Formel. Tägliche liebevolle Selbstmassagen, Sport, Dehnungsübungen, Qi Gong, Yoga. Freies Tanzen, Singen, Schreiben. Ausdruck. Kickboxen und Schreien. Getragen sein: auf dem Pferd und in einer Körpertherapiegruppe. Lange Jahre Einzelarbeit mit einer Therapeutin, Gold, wie eine Mutter. Tägliche Meditation und Visualisierungsübungen. Sich erden während der Gartenarbeit. Sich verbinden mit der Natur, dem Wilden, der Heilerin in mir. Viel Kontakt mit Menschen, vor allem mit Frauen, in einer großen WG auf dem Land. Und immer Musik. Passende Texte und mitsingen. Singen ist so heilsam. Heute sind mir Gesangsunterricht und Stimmbildung mit die liebsten Dinge, die ich unterrichte neben der Arbeit in der Natur, die so viel zu geben hat. Ein lustvolles Leben in Bewegung, nehmen dürfen, das Genießen, in einer Welt, der zu vertrauen ist, das ist das Gegenteil von Drama und Depression, aber auch das kann immer wieder Teil des Lebens sein. Was zählt, ist der Kern, das immer wieder zurückkehren zum gesunden, lebensfrohen Teil des Menschen.

So viele Menschen sind depressiv, suchtkrank, haben ungute Beziehungen, leben halb und halten das auch noch für normal. Depression ist der Ausdruck des Verdrängens, das Verlassen des Inneren. Depressionserkrankungen nehmen immer weiter zu. Sie können viele Ursachen haben. Eine davon sind verdrängte Erfahrungen, welcher Art auch immer. Wer hat schon Zeit für Heilungsarbeit? Wer nimmt sich Zeit dafür? Wer nimmt sich ernst?

Familienwalz - home sweet homeIch hatte die „Chance“ der Autoimmunerkrankungen, sage ich mir heute mit nur noch wenig Zynismus. Die Menschen auf unserer Weltreise haben, wie alle, ihre persönlichen Heilungswege. Sie haben glücklicherweise Freunde, Freundinnen und Familie und gehen die Dinge an. Sie ließen uns teilhaben und wir danken ihnen dafür. Sie haben auch immer noch mit Alpträumen zu kämpfen, mit schlechten Nächten und Schlaflosigkeit, mit psychosomatischen Beschwerden und Tagen, an denen nichts geht und das Aufstehen schwer fällt. Sei sprechen es aus, manchmal schnell, manchmal zögernd und wir lassen uns berühren. Das macht traurig. Und zornig. Du willst etwas tun und weißt nicht was. Wir sehen sie ihren Alltag leben, ihren Beruf ausüben. Wir hörten sie singen und sahen sie tanzen, lachen und küssen. Sie haben alle ihre eigenen Wege, das zu finden, was gut tut. Kuscheln im Bett, die Natur, Vollmondfeste, Kreatives und Produktives. So viele starke Menschen sehen wir, meist Frauen. Alle tun ihr Bestes. Aber wir hätten schreien können vor Wut, wenn wir wir Details erfuhren. Was ist das für eine Welt, in der Menschen einander so etwas antun? Eine Welt, die es zu verändern gilt. Koyaanisquatsi heißt ein Wort der Hopi-Indianer, das einen Zustand beschreibt. Ein Zustand, der nicht auszuhalten ist. Aber gleichzeitig bedeutet das Wort auch: Ein Zustand, der verändert werden muss.

Was hilft euch in schweren Zeiten? Was gibt euch die Kraft trotz allem kraftvoll zu leben?

Alex