Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual

Das Dorf Pisco Elqui hoch in den Anden ist schon aufgrund seiner Lage ein magischer Ort. Wüsten umgeben die winzigen Siedlungen hier, das Wasser kommt aus Quellen, die in großer Höhe entspringen und an den Hängen gedeihen wohl die süßesten Trauben der Welt. Die Täler sind Oasen voller Früchte, die Berge oft pyramidengleich. An über 300 Tagen scheint die Sonne, es gibt keinen Winter, der Himmel ist tiefblau, der Blick auf die Sterne nirgendwo wie hier. Deshalb hat hier nahezu jede Nation, die den Weltraum beobachtet, ein Observatorium.Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Auf dem Weg ins Valle de Elqui

Natürlich wird auch immer wieder von besonderen Lichterscheinungen berichtet, von besonderen Energien und Kraftfeldern – das gesamte Andengebiet wird als solches betrachtet. Wie sollte es auch anders sein, auf sich bewegenden Erdplatten voller Vulkane und leider auch immer wieder heimgesucht von verheerenden Erdbeben. Mutter Erde ist stark, stärker als wir Menschen. Seit jeher bitten Menschen ihre Götter und Göttinnen, Himmel und Erde um Schutz und Kraft. In Pisco Elqui erleben wir ganz zufällig – aber gibt es Zufälle? – an unserem letzten Tag in diesem Paradies ein wunderschönes Ritual, an dem fast das ganze Dorf teilnimmt.

Wir haben die vergangene Zeit sehr genossen. Das besondere Licht überwältigt besonders während der Sonnenauf- und -untergänge, die Berge erstrahlen in Pastellfarben und ihre besonderen Formen schaffen eine gewaltige magische Kulisse. Jeder Tag hier war ein Geschenk und nun nehmen wir Abschied. Es ist Samstagabend. Es dämmert, bald wird der Mond aufgehen, ein Vollmond. Von Ferne dringen Geräusche vom Dorfplatz herauf, dorthin zieht es uns. Der sonst recht einsame Platz ist voller Menschen, junge und alte, einfach alle. Pisco Elqui, der verschlafene Ort, ist aufgewacht. Kinder sausen mit Dreirädern um den Brunnen, Weißhaarige sitzen mit ihren Stöcken auf den Bänken.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Das Tal von Pisco Elqui

Es wird immer voller, Aufregung liegt in der Luft. Am großen Brunnen in der Mitte brennen Räucherstäbchen. Kohlehaufen werden angeheizt, eines für jede Himmelsrichtung. Viele Leute meditieren. Bei jedem besonderen Mond zum Sonnenuntergang zelebrieren sie hier vor der katholischen Kirche diese Zeremonie, das Homa-Ritual. Seine Ursprünge stammen aus Indien, aber es wird weltweit praktiziert und besonders häufig in den Anden. Beim diesem Feuer-Ritual wird zum genauen Zeitpunkt des Sonnenuntergangs unter anderem Kuhdung verbrannt, gemeinsam mit Erde und heiligen Kräutern. Hinzu kommt am Ende geweihtes Wasser. Erde, Wasser, Feuer, Luft, die lebensnotwendigen Elemente, die Basis menschlichen Lebens auf der Erde, Grund genug um einmal inne zu halten und sich rückzubesinnen.

Warum Kuhdung? Kühe sind nicht nur den Indern heilig. Sie tragen in nahezu allen Kulturen durch ihren wertvollen Dung unschätzbar viel dazu bei, dass die Erde fruchtbar bleibt. Hinzu kommt, dass ihnen eine besondere Mittlerfunktion zwischen Himmels- und Erdenergien nachgesagt wird. Nicht nur bei Naturvölkern. Und wer weiss? Nicht alles, was wir jetzt noch nicht beweisen können, ist Humbug.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Wandmalerei in La Serena

Scheisse verbrennen. Loslassen. Alten Mist zu neuer Fruchtbarkeit werden lassen. Das Ritual erinnert mich an meine heftigste Heilungszeit vor 15 Jahren, als mehrere schwere Erkrankungen mit vielfachen körperliche Schmerzen  alles zu überdecken drohten und ich mit allen Mitteln dagegen ankämpfte. Medizin, Therapie, Meditation, Trance-Arbeit, tägliche stärkende Rituale zur bewussten Begegnung mit dem Unterbewussten und letztlich Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Auch wenn mir heute das Singen dieser Mantren etwas fremd vorkommt und die Meditation in der riesigen Runde – während die Kinder, natürlich auch unsere, kreischend ums Rund rasen – mich nicht wirklich zur Ruhe kommen lässt. Petra sitzt neben mir, fühlt sich wohl, genießt die Atmosphäre.

Regelmäßig praktiziert haben Rituale enorme Kraft, sie können alle Reserven aktivieren – die jeder Mensch besitzt – und unsere Selbstheilungskräfte ankurbeln. Heute sind Hypnose und Selbsthypnose anerkannte Heilverfahren und die Wirkung des simplen, höchst wirksamen Meditierens – das ich schon als Kind lernte – wissenschaftlich belegt. Ich hatte das Glück, dass Autogenes Training – eine einfache Form der Selbsthypnose – in meiner ganz normalen kleinen Schule schon in der 5. Klasse als Wahlfach angeboten wurde und so konnte ich später darauf zurückgreifen und mit Hilfe von weiteren Techniken mein persönliches “Heilungsprogramm” entwerfen – mit großem Erfolg.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Keramik-Kuh in Valparaiso

Die Meditierenden hier in Pisco Elqui gehören ganz selbstverständlich dazu, sie wirken keineswegs fehl am Platze oder sonderbar. Es sind keine abgedrehten Hippies, die einem – sich an ihnen bereicherndem – Guru huldigen, es sind ganz normale Dorfbewohner jeden Alters. Frauen und Männer, die sich alle paar Wochen im großen Kreise vor der Dorfkirche treffen, der Erde und den Sternen, dem ganzen Universum für das Leben danken und sich gemeinsam auf ihre Urkräfte besinnen.

Wir kommen mit einer Frau ins Gespräch, die eine ganz besondere Ausstrahlung hat. Lieb. Ruhig. Stolz. Klug. Voller Kraft. Auch sie hat eine Zeit der Heilung hinter sich, der “Wiedergeburt”, der Rituale. Sie erzählt uns von einem Heilkundigen hier, der auch vor MS keine Angst hat. Das ist schön, aber wenn ich von Wunderheilern höre, bin ich erst einmal misstrauisch. Ich denke, dass alle in schweren Zeiten so viel Unterstützung wie nötig erfahren und neue ungewohnte Dinge ausprobieren, aber dennoch vorsichtig im Umgang mit so genannten Heilern wahren sollten.

Bei aller Vorsicht ist der Effekt des Glaubens, des Behandlers wie auch des Behandelten, ein riesiger, eine größere Kraft als manch ein Medikament. Schön ist es, von positiven Verläufen zu hören, von Menschen, die trotz Erkrankungen einen guten Weg gefunden haben. Oft nicht nur einen guten Weg, sondern ein Leben mit viel tieferem Glücksempfinden als zuvor. Passend zu Weihnachten, vom Dunkel zum Licht. Hin zu einer Wiedergeburt. Dieser Frau ist das wirklich anzusehen.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Abendstimmung in Pisco Elqui

Wir genießen die Stimmung auf dem Dorfplatz sehr. Diese Momente sind voller Kraft und Andacht und brennen sich in unser Gedächtnis ein. Das ist sehr wertvoll, denn es gibt keine Fotos von den Menschen, dem Räucherritual, dem geheimnisvollen Licht um uns herum, dem Sonnenuntergang und Mondaufgang in den magischen Bergen. Ein paar Wochen später werden wir in Santiago de Chile ein zweites Mal bestohlen und fast alle unsere Fotos sind verloren. Unsere Erinnerungen hüten wir wie einen Schatz. Unser Zuhause hier heisst „El Tesoro“, der Schatz.

Wir Menschen bevölkern seit Tausenden von Jahren diese Erde. Das, was uns trägt und ernährt, ist die Erde und was die Menschheit seit Tausenden rhythmisch begleitet, sind die Sternbilder und der sich wandelnde Mond. Feuer macht unser Leben hier erst möglich und ohne Luft würde alles sterben. Das Sich-binden an die Elemente des Lebens, an die machtvollen Rhythmen der Natur, kann große archaische Kräfte in Menschen freisetzen und die Selbstheilungskräfte enorm stärken. Dieses findet sich in schamanistischen Praktiken, mit denen ich – seit meiner Jugend – nur die besten Erfahrungen gemacht habe. Dabei finde ich, dass selbsternannte Schamanen, Heiler und Heilerinnen mit äußerster Vorsicht zu betrachten sind, allzu oft mit eher depressiver und selbstverliebter, humorloser Grundausstrahlung statt mit Lebendigkeit, die noch wichtiger als die Heilung selbst ist. Und das Entdecken der eigenen inneren Heilerin oder des Heilers.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Mit Ruta-Tee auf dem Stadtfest in Puerto Montt

Ich habe solche Rituale jeden Tag praktiziert, bin barfuß in den Garten an eine einsame Stelle, ich habe meditiert, in jede Himmelsrichtung , zur Erde und zu den Sternen und symbolisch heilende Kräfte in jede meiner Zellen geschickt. Ich habe der Sonne gedankt, der Luft, den Sternen, dass ich noch am Leben bin, trotz allem. Ich habe mich auf die Erde gelegt und mich bewusst von ihr tragen lassen, habe alle Feuer bewusst entzündet und die Luft, die ich bewusst geatmet habe, war heilende Luft. Basta. Hoffnung kann gelernt werden, wenn du sie jeden Tag pflegst. Heilende Sätze, die sich täglich in deinem Hirn festsetzen, bleiben nicht ohne Wirkung. Das ist heute belegt und bewiesen – wem es hilft, dass es wissenschaftlich zugeht.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Marktplatz in Pisco Elqui

Auch das Gegenteil ist heute bewiesen: wie zerstörerisch negative Grundhaltungen wirken und verinnerlichte – oft unbewusste – Denkmuster. Nur “positiv denken” ist zu wenig, die Reise geht zur Selbsterkenntnis und zum behutsamen “Umprogrammieren”. Zu diesen Mechanismen von Selbstheilung und Selbstzerstörung gibt es viele dokumentierte Fälle. Unsere Gehirn ist weitaus intensiver an Heilungsprozessen – oder Zerstörungsprozessen – beteiligt, als viele wahrhaben wollen.

Unser Advent in Chile: Ein Anden-Dorf feiert das HOMA-Ritual - Im ökologisch-mythologischen Park Chiloé

Dass wir an diesem Sonnenuntergangs-Ritual teilnehmen durften, hat uns beide sehr berührt. Wie großartig, dass so etwas ganz selbstverständlich, leicht und fröhlich sein kann, mit dem ganzen Dorf. Vor der katholischen Kirche. Nun nach Sonnenuntergang wird auf dem Kirchenvorplatz ausgelassen gefeiert. So soll das sein, denken wir. Als wir einschlafen, hören wir von Ferne die Musik. Bis zum Rande angefüllt mit guter Energie.


Alex