Wir wollen von Santiago nach Valparaiso mit dem Bus weiterreisen, aber da gibt es ein großes Problem: Keine Unterkunft. Ob es daran liegt, dass 2013 hier eine schreckliche Feuersbrunst wütete? Mit Tränen in den Augen saß ich damals vor dem Fernseher, all die brennenden Holzhäuser, so viel Zuhause, so viel Kunst, so viel Liebe. Ob wir überhaupt nach Valparaiso fahren sollten? Wir sollen. Für eine spontane Unterkunft ist Airbnb immer eine Lösung: im Internet leicht zu findende privat vermietete Zimmer oder Wohnungen, die zur Sicherheit Bewertungen der Gäste haben. In der Nachbarstadt Vina del Mar werden wir schließlich fündig. Elsa hat die besten Bewertungen, die wir je bei AirBnB gesehen haben.
Die Fahrt ist wunderschön – es geht Richtung Meer durch Weinberge – und noch dazu äußerst komfortabel in einem der vielen praktischen Überlandbusse. In Chile gibt es kaum Eisenbahnen, stattdessen in jeder Stadt einen zentralen Busbahnhof, wo zu jeder Zeit diverse Reisebusse zu günstigen Preisen in alle wichtigen Destinationen abfahren. Hier ist das spontane Unterwegssein kinderleicht. Du findest ganz normale Busse, die meisten haben aber besonders breite Sitze, die sich in der Luxusklasse sogar zu Betten ausklappen lassen. Hier gibt es Kuschelsocken, Augenschlafmaske und bei Nachtfahrten morgens Kaffee an den Sitz, phänomenal. Das Reisen mit diesen Super-Bussen ist entspannter als jeder Flug. So etwas lässt sich freilich nur über das Internet ergattern oder im Voraus, alles andere gibt es einfach am Schalter.
Die Kinder finden die Busse überraschenderweise auch richtig gut. Es findet sich immer jemand zum Scherzen und die Aussicht oben: besser als jedes Kino. Außerdem ist es spannend, wenn ab und zu mitten auf der Panamericana angehalten wird und jemand mit großem Korb einsteigt. Was ist drin? Kleine Küchlein mit Manjar – köstlichem chilenischen Karamell? Pikante Empanadas? Waffeln? Verhungern kannst du nicht. Die Panamericana durchzieht fast ganz Südamerika in Nord-Süd-Richtung, meist am Pazifik entlang und ist über lange Strecken schnurgerade, was das Reisen sehr angenehm macht, auch im Bus. Wer den unvermeidlichen Action-Filmen entgehen will, bucht eine Karte weiter hinten.
In Valparaiso angekommen stellen wir fest, dass es doch noch verdammt weit bis Vina ist. Die rettenden Engel sitzen aber direkt neben uns. In den letzten Minuten im Bus komme ich mit einem jungen Mann ins Gespräch und zwar ausgerechnet über deutsche, klassische Musik und Opern. Auch er singt, auch Klassik und Oper, und am Liebsten Mozarts Zauberflöte. Wenn es eine Familienmusik bei uns gibt, dann ist es die Zauberflöte. Auch sich wenn Antons Musikgeschmack später in Richtung BeeGees, Dreigroschenoper und “What does the fox says?” verändert, in den ersten Jahren hat uns die Zauberflöte in allen Variationen begleitet. Wenn nichts mehr ging, zum Beispiel auf höllischen Autofahrten – in seinen ersten Jahren mochte er Reisen noch nicht sonderlich – oder wenn ‚der Wutkobold‘ bei uns zu Gast war, und das war er oft: die Zauberflöte schön laut aufdrehen, das bewirkte immer Wunder. Ob es daran lag, das wir quasi in den letzten Stunden vor der Geburt noch einmal mit Petras Mutter die Oper open-air am Schweriner Schloss gesehen hatten? Egal, Hauptsache etwas wirkt und wenn etwas tausendmal hintereinander und schon am frühen Morgen ertragbar ist, ist es Mozart. Die musikalischen Studenten bringen uns mit ihrem Auto glatt bis vor die Haustür nach Vina del Mar, wir sind sprachlos und sehr dankbar.
Bei Elsa fühlen wir uns sofort wie bei der lieben Tante zu Besuch. Spießrutenlaufen ist allerdings das Bugsieren der Kinder ins Zimmer, denn alles steht voller höchst zerbrechlicher Erinnerungsstücke, es ist ein Wunder, dass nichts kaputt geht. Wirklich schade, dass wir kein Spanisch können, Elsa ist die Herzlichkeit in Person.
Tags darauf zieht es uns erst einmal zum Meer, das sich als erschreckend kalt entpuppt. Der Pazifik ist nicht ohne. Die Kinder trauen sich gar nicht hinein, aber Strand allein reicht ja auch schon zum Kinderglück. Dazu noch ein Berg frittierter Spezial-Empanadas und fettig-süßes Churros, direkt neben einem großen Spielplatz – wer braucht bitte einen mondänen Strandort mit Chile-sucht-den-Superstar, wenn es auch die Bademeile hinter der Mall tut? Das prunkvolle Vina lassen wir links liegen. Manchmal entscheiden eben Fügungen, was das Beste ist.
Valparaiso am nächsten Tag tut, was es soll: beeindrucken. Dieter Malinek aus Reinhard Meys Lied „Ulla und ich“ hatte recht mit seinen Schwärmereien und der lieben Ulla wünsche ich von Herzen eine Reise in diese schöne Stadt, die so betört mit ihrer Mischung aus Verfall und Kunst. Wie berauscht spazieren wir durch die Open-Air-Bilder-Galerie und fotografieren für die Ewigkeit. Dass Graffitis irgendwann das Zeitliche segnen, ist ein Trauerspiel. Obwohl: „Das Zeitliche segnen“ sehr schön zu den teilweise haushohen Kunstwerke passt. Von Außenstehenden ist nicht zu erkennen, dass die Stadt vom Feuer zu einem Teil zerstört wurde.
Auf die vielen kleinen Hügel der Stadt fahren ganz patent kleine Bahnen und Fahrstühle, wenn sie nicht gerade defekt sind. Wir schnaufen die Treppe hoch und werden oben beängstigend gewarnt: „Nicht weitergehen! Gefährliches Viertel! Geht lieber wieder runter.“ Wie schade, es sieht so schön hier aus! Aber das lassen wir uns nicht zweimal sagen, noch einmal wollen wir wirklich nicht ausgeraubt werden. Die Armut in der ehemals florierenden – und jetzt in manchen Vierteln recht heruntergekommenen – Hafenstadt macht eben erfinderisch.
Arm war Pablo Neruda nicht, das ist an seinen prunkvoll-künstlerischen ehemaligen Häusern zu sehen. Das Haus La Sebastiana, das in Valparaiso steht, ist ganz besonders kuschelig. Es liegt ganz oben mit einem Rundblick, der seinesgleichen sucht. Selbst auf dem klitzekleinen Klo gibt es ein Zimmer gen Ozean. Das ganze Haus beherbergt Sammlerstücke, an denen du dich gar nicht satt sehen kannst. Wir entdecken, dass wir in Hamburg im Treppenhaus haargenau die gleiche Tapete haben, was für ein schöner Zufall. Leider überlässt uns das Museum nicht das Haus, obwohl wir doch so gut hier hereinpassen würden. Im Garten blüht eine alte Jasminhecke. Es ist schön, zu wissen, dass sie auch schon zu Nerudas Zeiten hier stand, unverletzt. Anton sammelt mit mir nun die abgefallenen Blüten für das Aromatisieren von Tee.
Am Haus der Kultur hängt ein riesiges Banner für ein Konzert: Inti-Illimani. Dass es die noch gibt! Die Band habe ich mit 17 viel gehört und die Musik hat mich viele Jahre begleitet. Nueva Cancion heißt die besondere Musikrichtung: landestypischer Folk, einprägsame Melodien, Chiles Widerstandslieder, perfekt zum Wandern und Nachsingen. Dass ich sie 25 Jahre später hier wirklich live hören könnte, ist höchst beglückend. Die Musik hatten wir auf dem gestohlenen Laptop und zu Hause habe ich sie oft mit den Kindern gehört, wenn wir uns auf die Reise nach Chile eingroovten. Ein Kreis schließt sich. Es ist so schön, wenn etwas unsterblich ist und durchs ganze Leben begleitet. Inti-Illimanis Melodien hören wir auf der ganzen Chile-Reise immer wieder irgendwo.
Am Abend folgen wir dem Tip der Studenten aus dem Bus, auf halber Strecke Halt zu machen, am Fischmarkt: Am Strand Essen gehen, da, wo der Hai hängt, es gäbe nichts Besseres. Sie hatten Recht. Die Sonne geht malerisch im Meer unter. Wir gedenken Hamburg, haben wir doch selbst viele Jahre in der Nähe des Altonaer Fischmarktes gewohnt. Allein im Restaurant – die Chilenen essen gerne zu sehr später Stunde – werden wir liebevoll umsorgt und fühlen uns wie Königinnen mit ihren Infanten, bei diesem Blick auf Strand und Meer. Dazu bekommen wir frisch gefangene Fische in Butter kredenzt, dass es zum Weinen ist. Und einen Pisco Sour natürlich. Jene Ulla aus dem Lied von Mey war „nie in Valparaiso gewesen“, sie tut mir so leid. Ich möchte ihr am Liebsten sofort ein großes Glas Pisco Sour bringen.
Kunst in der Stadt – wo ist dein liebstes Graffiti? Und gibt es auch für dich Musik, die dich seit Jahrzehnten treu begleitet?
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Liebe Alex, mit ganz viel spannung habe ich deinen so bunten aufregenden Text gelesen….was für eine spannende welt, was für tolle menschliche Erlebnisse und auch die musikalischen. Ich danke dir , das war schnell mal um die Welt in eine wilde Zeit und Umgebung….
Liebe Iki, so soll es sein. Wir möchten so gerne etwas teilen, zeigen, beschreiben, was großartig ist – nicht nur alleine urlauben und genießen. Reisen, auf so vielerlei Art, geht ja aber auch von zu Hause aus, Deine Reisen sind ebenso großartig. Alles Liebe