Auf der Reise fühle ich mich fast immer kerngesund, auch mit MS. Ich schleppe die Kinder genauso wie Petra, auch den fünfjährigen Anton, wie auch die Gepäckmassen bei jedem Umzug in ein neues vorübergehendes Zuhause. Das geht natürlich an die Grenzen. Am Anfang spüre ich jeden Knochen und Muskelkater gibt es immer wieder. Die MS macht sich aber kaum bemerkbar, ab und zu sendet sie Signale, wie ein Radar, an dem ich sehr genau abmessen kann, ob ich eine Pause brauche und einfach mehr Schlaf, mehr sanfte Bewegung oder mehr Berührung. Ich versuche, gut zuzuhören und diese bisweilen sehr schmerzhaften Körperratschläge zu befolgen. Das ist das Wesentliche, das ist das, was hilft.
Auf dieser langen Reise ist das kurioserweise viel einfacher als Zuhause. Hier gibt es keine To-do-Liste und keine Termine, keinen Fernseher, keine Süßigkeitenecke, kein Telefon und keine Bücherwand, kein Klavier und kein großes Aufräumen am Abend. Und die simple Lösung eigentlich aller Probleme lautet: Schlafen gehen. Warum nicht einen Schlaftag einlegen und mit den Kindern ins Bett? Auch zu Hause würde das einiges an Entspanntheit mit sich bringen. Hier wird es zur Regelmäßigkeit. Wenn ich das nicht mache, merke ich, dass ich mich ungut verändere. Nicht nur körperlich. Sachen bringen mich zur Weißglut, die mich sonst nicht weiter beunruhigt hätten. Die Kommunikation wird schwierig, ich werde zum Zombie, fühle mich schlecht und fange an, mich zu hassen. Das ist keine gute Situation, sie ist einfach nicht auszuhalten, für alle. MS macht Überforderung zur Hölle. Aber ich merke, es geht gar nicht immer unbedingt um die MS. Auf Reisen, und auch grundsätzlich, gilt: Wir alle haben Grenzen und kommen an unsere Grenzen. Das Fazit: Grenzüberschreitungen machen verrückt. Notleinen müssen sein.
Dabei ist es so einfach: Heiß duschen, Baldrian und hopp hopp in die Falle. Nach einem langen Tag on the road ist es sowieso kein Problem, zur Ruhe zu kommen. Viele Stunden Meeresluft und gutes Essen zur rechten Zeit, viel Bewegung, keine großen Sorgen, das reicht für eine lange Nacht. Sofern die Kinder das zulassen… Oft haben wir nur ein Bett und dazu wühlende Kindern. Wir können von Glück sagen, dass Anton ein Indianer ist und sich gerne mal ein Bett auf dem Fußboden bereiten lässt. Im Laufe der Nacht landet er natürlich doch wieder bei uns. Und wenn Theo Zähne bekommt und seine gerade erst entstandenen Hauer in Petras Hals schlägt – auch nicht schön. Aber wir haben eine Lösung: Versetzt wie die Sardinen schlafen, Fuß an Kopf, früher soll das ja auch wunderbar funktioniert haben und längst nicht alle Völker haben Betten, oder?
Wir alle haben Grenzen
Auf dieser Reise merke ich, wie auch Petra kommt ihre Grenzen kommt, wann sie müde wird, wann es nicht mehr geht. Sie hat genau wie ich gute oder schlechte Tage. Auch sie braucht manchmal Unterstützung. Die elende Rollenverteilung „Eine krank – Eine gesund“ löst sich auf. Das tut sehr gut.
Ein Thema, das in Beziehungen mehr Einfluss hat, als mensch sich so denkt: unbewusste Rollenverteilungen. Zuschreibungen, innere Bilder, Schwarz-Weiß-Denken und -Fühlen. Das sind Dynamiken, die in Familien beginnen, Gruppendynamik, die überall entsteht, wenn Menschen zusammenkommen. Dynamiken, die sich verfestigen und in Beziehungen wie neuen Familienkonstellationen ihren Fortgang finden. Das sind Muster im Gehirn, Pfade, die sich “eingetreten” haben und sich reproduzieren. Wenn du Gleichberechtigung leben willst und in Rollen bleibst – schwierig. Auflösungen sind harte Arbeit. Erst einmal wollen die Muster erkannt werden, das ist schon was wert. So eine Reise hilft sehr, sie zu erkennen und aufzubrechen. Wir sehen uns täglich ununterbrochen, wir reflektieren, wir sind mehr bei uns und wir sind uns ähnlicher als ich dachte.
Jeder Mensch hat Grenzen, mal früher, mal später. Jeder Mensch hat mit Auswirkungen von Grenzüberschreitungen zu kämpfen. Wenn du dich erschöpfst, musst du es ausbaden, ob du chronisch krank bist oder kerngesund. Auf Reisen ist es leichter, das früher zu erkennen und etwas dagegen zu tun. Aber ich habe andere Folgen, wenn ich es übertreibe, die MS vergibt nicht so schnell. Dann versteift sich ein Fuß oder die Hände, ein Muskel krampft schmerzhaft, wechselnd, da wirst du schnell vernünftig oder du zahlst die Rechnung. Ich weiß auch nie, ob das aktuelle Symptom vorübergeht oder für immer mein Begleiter sein wird. Das gruselt. Da gibt es eben öfter mal ein „Ich-muss“, eine Zwangspause, auch wenn das egoistisch klingt und im Alltag nervt. „Du sitzt immer am längerem Hebel!” Die MS sitzt leider am längerem Hebel. Nicht ich. Ich muss mich schützen und im richtigen Moment das Richtige tun.
Die Theorie vor der Reise, dass die Kinder mich auch schützen, weil sie letztlich dasselbe brauchen, bewahrheitet sich fast immer. Sie wollen regelmäßig Tobezeiten, Bewegung, sich fordern, sie brauchen es, regelmäßig im Grünen zu sein, in Ruhezonen, sie brauchen genug Schlaf und sie drehen durch, wenn sie nicht regelmäßig essen. Theo fordert auch regelmäßig: „Bus! Auto!“ Wir schleppen uns oft mühsam mit ihnen ab, aber sie bringen uns auch dazu, uns nicht in tausend Stunden Stadtspaziergang zu verzetteln und öfter mal den Bus zu nehmen oder ein Taxi. Angenehm ist auch, dass Pausen den Tag durchziehen. Spürbar wird, wie sehr wir auftanken, wenn wir öfter mal kurz auf einer Bank sitzen, ein Stündchen auf einem ruhigem Spielplatz verbringen oder die Mittagspause im Bus.
In dem Alter, in dem unsere Kinder sind, ist alles ein großes Abenteuer. Sogar der öffentliche Nahverkehr ist eine einzige Freude, überall sind Spielkameraden, neue Menschen, denen man ein charmantes “Hallo” zuwerfen kann. Der flirtende Theo ist überall ein Sonnenschein und eine Eintrittskarte zum zwanglosen Gespräch. Diese ganze Niedlichkeit macht die Anstrengungen verdaulicher. Das konnte ich früher nicht glauben: Dass Kinder mit ihrem lustigen Sein tatsächlich Anstrengungen und Müdigkeit vergessen lassen können.
Ein Fest für die Sinne
Die ganz normalen Bedürfnisse befriedigen, Essen, Trinken, Schlafen, Bewegung – das geht mit Kindern ganz einfach. Wir halten ihre Grenzen ein und damit meist auch unsere. Wir genießen und das mit allen Sinnen. Theo jubelt, wenn es gutes Essen gibt, er tanzte ekstatisch, als in der Pizzeria die riesige Platte duftender Margherita gebracht wurde und das blieb so: wenn er etwas mag, wird getanzt. Wir alle lieben Essen, und das fünfmal am Tag, das ist doch wie im Schlaraffenland! Köstliche Picknicke an der frischen Luft und spontane Einladungen bei Couchsurfern. Wir leben ein WG-Leben auf Zeit, wie früher, wunderbar. Paradiesisch kommt mir auch das viele Essengehen vor, tägliches Kochen ist zu Hause Alltag und verliert auf Dauer seinen Reiz. Neue Geschmäcker auf Reisen aufzuspüren und nichts tun zu müssen, das ist ein Fest.
Ein Fest für die Sinne, das ist meine Lebensmaxime. Ich habe eine, ach ja, zwei, Erkrankungen, die die Sinne betreffen und das Nervensystem. Da ist es doch naheliegend, als Heilungsmaxime alle Sinne über und über glücklich machen zu wollen. Das Leben- ein Sinnenfest. Das ist der Weg. Mein Weg. Und das ist äußerst angenehm. Auch, wenn ein unangenehmes, auftauchendes Symptom der erste Schritt ist, diese Dinge anzugehen – die MS letztendlich. Oder Crohn-Bauchschmerzen mahnen, hinzufühlen, was mir auf den Magen geschlagen ist. Das Ergebnis ist etwas Genussvolles. Ein gutes Leben, ein sinnenfrohes Leben.
Ich genieße die Fußmassage in New Yorks wuseliger Chinatown oder das viele Barfußgehen, an Stränden, in Parks, manchmal überall – wenn es die Füße mit Kribbeln und Schmerzen verlangen – das tut so gut. Oder das bewusste Beglücken der Augen, durch Licht oder ruhige Dunkelheit. Wenn ich Farben bewusst wahrnehme, die blaue Stunde, Graffitis und Bilder der Städte, Landschaften, das unendliche Grün Irlands, das Gleißen des Meeres, wird alles zur Kunst. Jeder Baum, jedes schöne Bild, jeder Blick auf ein beeindruckendes Gesicht, ist ein Genuss. Die vielen verschiedenen Menschen, Chinesinnen, Latinos, zarte Neugeborene, alte, runzelige Menschen, alle sind so verschieden, so spannend ihre Gesichter. Am Wegesrand all die Blumen und die Fülle in botanischen Gärten, jeder Blick ist ein Vergnügen.
Der Genuss verdoppelt sich, wenn mir manchmal einfällt, dass das alles mit einer Krankheit wie MS nicht selbstverständlich ist. Dass ich auch Zeiten ohne lange Wegstrecken hatte und Krücken oder ein Stock sinnvolle Hilfen waren. Ich war schnell übermüdet – Fatigue heißt das – und hatte Schlafstörungen, dazu immer Schmerzen. Da war an so etwas wie Weltreise nicht zu denken. Deswegen fürchtete ich mich zu Beginn auch verständlicherweise vor dem Projekt. Zu bekannt sind mir Berg-und-Talfahrten und zu sehr Alltag, wie fragil eine Stabilität mit MS und Morbus Crohn ist. Seit 26 Jahren habe ich die Diagnosen und seit fast dreißig Jahren habe ich Symptome, da lernst du, damit umzugehen. Manches dauerte freilich Jahrzehnte. Zum Beispiel, früh genug zu wissen, wann Schluss ist, wann es zu viel ist, wie viele Eindrücke verträglich und verdaubar sind. Das klappt meistens, aber nicht immer. Gut tut, gemeinsam zu fühlen, wie ähnlich wir uns am Ende doch sind. Festzustellen, dass wir alle Grenzen haben, an sie stoßen und wir als Familie und Paar Teamplayer sind.
Ein einziger Ohren- und Augenschmaus
Auf dieser Reise bin ich nicht oft überfordert, noch nicht einmal in quirligen Städten wie New York, Toronto oder San Francisco. Im Gegenteil: Alle Sinne laben sich auf Reisen, die Ohren an der allgegenwärtigen Straßenmusik und dadurch kommt es an vielen Ecken zur spontanen Rast. Ein glückseliges Verharren. Ein sich-Zeit-nehmen. Augen schließen. Ohren streicheln lassen. Viel zu selten machen wir das Zuhause, dabei wäre es genauso möglich. In Irland ist alles voller bunter Musik, tanzend, wirbelnd. Die vielen Sängerinnen und Sänger in Irlands Dörfern und Städten machen das Pausieren zum Vergnügen. Zum Ohrenschmaus. Und sind nie zu viel. Wir haben ja keine Stereoanlage wie Zuhause und hören weniger Musik vom Band. So viel Livemusik in wenigen Wochen, da jauchzen meine Ohren, das ist etwas ganz anderes. Ich spüre regelrecht, wie meine Gehirnwindungen jubeln und merke am eigenen Leib wie heilsam Musik ist, besonders Live-Musik.
In San Francisco werden wir von sanften Gitarrenklängen mit samtener Stimme an der Fisherman’s Wharf betört. Am Strand sitzt ein Harfenspieler. Harfe hörten wir oft auch in Irland, in Städten und am höchsten Felsen an der irischen See, den Cliffs of Moher. Die irische Drahtharfe ist weltberühmt. Ich schleppe seit ungelogen dreißig Jahren eine Kassette mit dieser Musik mit mir herum, Heilungsmusik für mich, sanft und tröstlich, eine Begleiterin in allen Lebenslagen. Besonders beeindruckte uns auch eine grandiose Violinistin in San Francisco Downtown, Anton wollte gar nicht weitergehen.
Das Weitergehen, ohnehin ein großes Thema: Wie weit kannst du gehen, ohne dass du an deine extremen Grenzen kommst? Anton spiegelt oft unsere eigene Erschöpfung und sagt lautstark an, wo seine Grenzen sind. Es ist gar nicht so einfach, jedes Mal wieder herauszufinden, wann es stimmt oder Theater ist, damit der Packesel den Schreihals aufsattelt oder ein Eis spendiert.
Für all diese sinnlichen Vergnügen so offen zu sein, offen zu werden, das ist auf Reisen gut möglich ist, das ist heilsam. Und doch so normal. Sinnlichkeit ist ein Geschenk, das Nutzen unserer Sinne, und doch alltäglich. Das Einfache ist eben das Wesentliche.
Befriedigung – Zufrieden sein – In Frieden sein
Bei dem Thema „Alles-Gute-für-die-Sinne“ kommt natürlich Sex nicht zu kurz. Eine Zeit ganz ohne – no way. Deshalb habe mich auch vor der Reise gefürchtet. Was in der Kleinkinderzeit eh schon schwierig geworden ist, das Phänomen kennen wohl alle Eltern – und alle mit Langzeitbeziehungen – schien auf Reisen eine Rarität werden zu können. Mich grauste. Meistens wohl alle in einem Zimmer, gar alle in einem Bett! Immer erschöpfte Abende nach anstrengenden Tagen und niemals mehr freie Freitage wie sonst durch die Papas der Kinder möglich, von den zwei Besuchen der beiden einmal abgesehen, wo wir “Ausgang” haben würden. Die Vorstellung einer einjährigen Reise: mehr Alptraum als Traum? Oh je. Oh nein.
Die Realität wurde eine andere. Unsere Liebe haben Urlaube und Reisen immer schon beflügelt. Auch dieses Mal. Also: Reisen war nicht das Ende, eher ein Anfang. Spannend. Beglückend.
Des weiteren bin ich der Meinung, dass nicht nur der Partner für Spaß verantwortlich ist, sondern jede und jeder selbst sich Zeit schaffen kann, ganz für sich. Und schon geht es dir besser. Wenn Partner oder Partnerin immer alles bedeuten, immer alles sein sollen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit und kann nur frustrieren. Zeit mit sich ist ein Geschenk an dich selbst.
Sinnlichkeit ist ein Weg, einer meiner wichtigsten Wege, einen guten, schamfreien Umgang mit einem Körper, der nicht immer nur gute Gefühle bereit hält, zu pflegen. Früher hieß es: „Finger weg. Davon kriegt man Rückenmarksschwund!“ Das ist wohl der größte Witz. Denn ich weiß vom Gegenteil. Mein Rückenmark profitiert ungemein von Sinnlichkeiten, davon bin ich überzeugt. Für mich war es immer sehr wichtig, Sex zu haben, sinnliche Massagen, Berührung. Wesentliche Zeit für einen Körper, der Heilendes möchte, Kontakt, Zuwendung. Berührungen haben ein riesiges Heilungspotential. Egal bei welcher Erkrankung. Unsere Gesellschaft ist erbärmlich im Berühren. In berührungsarmen Zeiten wächst bei mir die Bereitschaft zum MS-Schub. In Zeiten mit viel Kontakt und viel Lust gibt es ein Gleichgewicht und Glück.
Erotik, Sinnlichkeit und Sex, so lange ich nicht zu sehr beeinträchtigt bin – und ich gebe zu bedenken, dass auch Gesunde beeinträchtigt sein können – ist eine, wenn nicht die machtvollste, Kraft, einer Krankheit etwas entgegenzusetzen. Und selbst in miesen Zeiten – gerade dann – ist Sinnlichkeit und Sex ein Weg, sich lebendig, sinnlich, ganz und wunderbar zu fühlen. Das sind die gesunden Seiten, die unzerstörbaren, die immer da sind. Die Hormone, die ausgeschüttet werden, könnten besser nicht sein. Das Immunsystem reguliert sich gar wunderbar, bei Berührungen und Sex. Körper und Seele schwimmen in Endorphinen, die alle Körpersysteme positiv beeinflussen und dich glücklich machen. Auch Bindungshormone sind sehr gesund und stehen im Verdacht, die MS (und alle möglichen anderen Erkrankungen) günstig zu beeinflussen. Der Hormonhaushalt in der Schwangerschaft, der von ihnen bestimmt wird, ist heilsam für an Autoimmunerkrankungen Betroffenen. Es sind die gleichen Hormone, die auch bei sinnlichem Körperkontakt, welcher Art auch immer, ausgestoßen werden.
Abgesehen von der Wissenschaft: Gibt es etwas Schöneres? Auch das heikle Thema, sich Neues auszudenken, zu träumen, sich zu trauen, gehört dazu. Auf Reisen mit sich, dem Partner und der Welt. Das ist für mich heilsam, auch wenn es nicht immer einfach ist. Es ist gut. Macht satt. Und zufrieden. In dem Wort Zufriedenheit und Befriedigung steckt das Wort Frieden. Friede sei mit dir- so ein schöner Wunsch, ein guter Segen.
Legalize it! Cannabis als Medizin
Last but not least: das Thema Cannabis. Für MS-Betroffene ist das nichts Neues, denn ist wird seit ewigen Zeiten erfolgreich eingesetzt, seit ein paar Jahren auch ganz legal als zugelassenes Spray. Das auch ich mit mir führe, für Notfälle.
In Irland hatte ich noch mehr Probleme mit den Beinen, schmerzhaft sind die Muskeln oft, Spastik heißt das. Meine Füße, die sich häufig so anfühlen, als wäre ein fettes Pferd draufgetreten, melden sich regelmäßig. Auch die Finger und Handgelenke schmerzen meistens und fühlen sich an wie eingeschnürt. Wäre ich Bondage-Fan, wäre ich gut dran. Ich kenne das seit Jahren. Lange war das meine ganz persönliche Hölle. MS und dann noch Carpaltunnelentzündungen und zwei OP’s, dankeschön. Aber nach und nach ist es besser geworden. Immer mit kleinem Joint am Abend und oft auch manchmal mittags. Nicht viel, so, dass keiner es bemerkt, aber so viel, dass es hilft: Die Dosis macht die Musik. Cannabis muss nicht umhauen, es soll nur helfen und das tut es.
Als wir losreisen, sind die Schmerzen viel weniger als in den Jahren zuvor, ich bin sehr dankbar, in dem vorherigen Jahr der Planung war es noch ganz anders und diese Reise mit dem Gepäck und auf den Rücken geschnallten Kindern schwer vorstellbar. Mitunter schlotterte ich vor Angst. Aber nun ist es aushaltbar, ganz in Ordung, nach all dem Horror der letzten Jahre ein Riesenfortschritt der mich sehr glücklich macht. Auch wenn ich Abende habe, an dem Symptome schmerzen und ängstigen.
Dank Cannabis-als-Spray, Sativex, ist am nächsten Tag alles verschwunden. Ich bin dem Doc zu Hause sehr dankbar. Tagsüber muss ich es selten benutzen. Aber es ist da, für den Notfall.
Ich bin heilfroh, dass ich nicht viel schmuggeln muss, nahezu alles total legal dabei zu haben ist sehr angenehm. Dazu kommt, dasss ich nicht alleine bin. Am letzten Abend in Irland in Drogheda begegnet mir im Pub Dixie, alle kennen ihn, er ist bei jeder Session dabei, schreibt Gedichte, trägt sie vor. Alle hören ihm zu. Applaudieren. Dixie hat MS, ist so genannter Schwerbetroffener, sitzt im Rollstuhl, redet kaum verstehbar.
Ich gehe zu ihm, wir unterhalten uns, auch mit Hilfe seines Assistenten. Sie notieren sich vieles, was mir geholfen hat, besonders das Weihrauch in hoch dosierter Form als Tabletten. Natürlich ist Cannabis Thema, in so einem Stadium ohne, das wäre die Hölle. Mit Cannabis geht für Dixie vieles besser, kein Thema. Wenn es legal wäre, würden viele Schmerzbetroffene leichter davon profitieren. Skandalös, dass dies immer noch nicht der Fall ist.
Es fällt leicht, mit Dixie in Kontakt zu treten, trotz Sprachbarriere. Schwerer Betroffene haben mir früher sehr viel Angst gemacht, zu nah ist das Thema, zu bedrohlich die Vorstellung, selbst so zu enden oder schlimmer. Schließlich sind Todesfälle aufgrund von MS möglich, und sehr grausame Verläufe, wenn auch sehr selten. Früher bin ich dem Thema ausgewichen. Der extrem gute, und auch sehr lustige, Film „Ziemlich beste Freunde“ hat mich damals ziemlich umgehauen, auch wenn der Protagonist nicht MS hat. Zu realistisch ist das Thema Lähmung. Das muss ich nicht dauernd vor Augen haben.
Aber irgendetwas hat sich verändert. In Hamburg schon ist mir eine Frau in meinem lateinamerikanischem Schreibecafè begegnet, eine ehemalige Kostümbildnerin, schwer gebeutelt, tapfer, interessant. Ich konnte offen über die MS reden und war nicht mehr so aufgeregt, nicht mehr so verängstigt wie früher. Cannabis war auch hier ein Thema. So vielen hilft es, besonders bei MS, aber nicht nur. Auch bei Krebs, Aids, anderen Autoimmunerkrankungen, Alzheimer und Demenz leistet es wertvolle, durch offizielle Studien bestätigte, Dienste. Nicht nur im Bereich Behandlung von Symptomen, auch bei der positiven Beeinflussung von Erkrankungen. Wer Bedarf hat, sollte sich an den ACM wenden, der „Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“, einem Zusammenschluss von Medizinern, der Betroffene mit Infomaterial über den Einsatz und neusten Studien versorgt.
Ein bisschen Gras reist immer mit, winzige Mengen in Ländern, in denen das toleriert wird. Diese Mengen, lachhaft für Leute, die wirklich kiffen. Aber ich brauche nicht viel. Ich verzichte auf das Deklarieren an den Flughäfen. So schön kann eine schwere Krankheit sein.
Spaß beiseite, so fein das Kiffen in Maßen ist und das Spray, wirklich blöd ist es, wenn sich MS-Symptome zeigen. Es ist ein Segen, dass nach den letzten Schüben nach Monaten und Jahren des schmerzvollen Leidens, nicht viel übrig geblieben ist. Ich könnte auf die Knie fallen vor Dankbarkeit. Dass ich sogar den Führerschein in diesem Frühling machen konnte, nach nahezu Jahrzehnten des „Neins-wegen-MS-Augenproblemen“, das ist ein Wunder, das mich immer noch sprachlos macht.
Ich fahre selig durch die Weiten Kanadas und den Mittleren Westen der USA. Natürlich passe ich auf, dass ich nicht zu viel THC im Blut habe – da sind Konsumierpausen notwendig. Ich bin beim Autofahren einfach nur glücklich und dankbar, es ist ein Geschenk, keine Selbstverständlichkeit. Auch das ist etwas Schönes an einer schubförmigen MS: die große Dankbarkeit, wenn etwas besser wird. Erst Recht, wenn das nach Jahren geschieht, wie ich es schon oft erlebt habe.
Cannabis in Maßen ist etwas, was mir immer schon sehr geholfen hat. Oft verschämt, heimlich, verzagt, rede ich nun offen darüber. Ich habe schlichtweg keinen Bock mehr auf Heimlichtuerei. Jetzt, wo ich es als legales Medikament bei mir führe, gibt es erst Recht keinen Grund mehr dazu. Außerdem, Kiffen ist, auch in Deutschland, wie fast überall auf der Welt, genauso beliebt wie Biertrinken, kein Grund, sich dafür zu schämen oder es zu leugnen. Wie gesagt, die Dosis macht den Unterschied. Du kannst etwas benutzen als Medikament und Genussmittel oder als zudröhnende Droge. Als Erwachsener. Für Jugendliche mit einem noch nicht ausgewachsenem Gehirn gelten da andere Regeln. Schwer zu akzeptieren ist es in dieser Zeit ein absolutes No-go. Ich bin froh, erst als Erwachsene mit Cannabis Kontakt gehabt zu haben. Dann aber, und in Maßen, erweitert es die Fähigkeit wahrzunehmen, macht die Sinne aufnahmefähiger und gleichzeitig entspannter.
Kiffen auf Reisen, das geht gut, besser als Zuhause. Überall riechst du es. Auf den Straßen, bei Konzerten, auch im Botanischen Garten, überall. In Toronto und Montréal, in New York, auf dem Land und erst Recht in San Francisco, wo ich auch im Bus den Duft erschnüffelte und direkt neben mir eine junge Frau sehe, sehr schick, wie sie eine riesige Menge Gras in ein schönes Zigarrenblatt rollt. Ein unfassbarer Geruch, eine unglaubliche Menge. Kein Mensch guckt. Also gut, Schluss mit der Heimlichtuerei. Es tut einfach gut. Es ist in Maßen sehr gesund. Es gibt es viele Länder, wo Kiffen völlig normal ist, Alltag. Kein Grund, darüber nicht zu reden. Im Gegenteil, wir sollten über Cannabis als Medizin reden, dringend. Es gibt so viele Vorbehalte bei Menschen, denen es helfen könnte. Als Antidepressivum, als Schmerzmittel, als entzündungshemmende Substanz, die Alzheimer und Parkinson günstig beeinflussen kann, MS, Rheuma, Krebs. Bei Brustkrebs gab es Studien, die bewiesen, dass Krebszellen unter Cannabiseinfluss zur Selbstzerstörung neigen. Bitte sehr, gerne doch. Auch ein hohes Alter spricht nicht gegen einen schlaffördernden Keks am Abend. Als Erkrankte würde ich nichts unversucht lassen, was vielversprechend ist. Und hält. An Krebs erkrankte Menschen in unserem Kreis haben davon profitiert und ich kann mein Leben leichter und schmerzfreier leben und diese Reise sehr viel besser stemmen. Danke Marihuana!
Alle Sinne beisammen und ganz bei Trost
Alle Reisen werden von den Sinnen bestimmt. Was wir wahrnehmen und fühlen. Vieles ist auf Reisen anders, also werden wir offener, für alles Mögliche. Wir sperren Augen auf und Nase, wir schmecken, wir versuchen, die Umgebung wahrzunehmen, wie sie ist. Alle Sinne werden gebraucht und gefordert. Mitunter auch überfordert. Wir bringen uns wieder ins Gleichgewicht. Wir spüren unsere Grenzen und Grenzüberschreitungen, die durchaus auch angenehm sein können. Auf Reisen ist Wagemutiges viel einfacher.
Die Dankbarkeit für die Sinne ist tagtäglich mit auf Reisen, in meinem Herzen, auf meiner Zunge, ich sprudele manchmal über vor Glück. Vieles nehmen wir selbstverständlich, was vielleicht gar nicht selbstverständlich ist. Die scharfen Sinne sind nur auf Zeit bei uns, wir wissen nicht, wohin uns das Leben führt, wie wir im Alter leben werden, wie unsere Sinne sind, wenn wir abbauen. Mit MS ist dieses Thema aktuell, immer wieder. Das kann es natürlich nicht immer sein, viel zu belastend wäre das. Das Verdrängen musste ich auch erst einmal lernen. Wenn die Symptome es zulassen.
Auf dieser Reise koste ich alle Sinne aus, genieße, wo ich kann. Ich bin viel seltener ärgerlich oder frustriert. Dieses intensive Leben auf Reisen wahrnehmen, alle Sinne beisammen zu haben und sie als wichtigstes Gut zu schützen, ist ein großes Lebensgeschenk.
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