Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt

Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - Kurz vor Halloween in Glen Park, San FranciscoSeit Tagen läuft in Santiago die Halloween-Vorbereitung. Die ganze Stadt scheint sich aufzurüsten. Schon in San Francisco war Anton völlig außer sich bei dem Anblick gänzlich in Spinnennetze eingesponnene Häuser voller Lichterketten, an denen Hexen und Gespenster klebten. Letztes Jahr im November war es noch bitterkalt, wir erinnern es gut. Nun überholen uns Minirockmädchen in Spinnenweben-Strümpfen auf dem Weg zur Party. Es ist sommerheiß. Die Welt scheint auf den Kopf gestellt. Heute Abend kommen wir nicht an dem bunten Glitzerkram vorbei, beide Kinder bekommen etwas Blinkendes und ich überlege, wie wir Anton aus Nichts ein halbwegs akzeptables Kostüm basteln könnten. Denn durch die Straßen ziehen bereits, trotz später Stunde, Horden von Kindern und fordern Süßigkeiten. Wir kommen nicht drumherum. Ich gehe mit Anton in einemHalloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - Süßes oder Saures mehr römisch-griechisch anmutendem Gewand um den Block. Völliges Understatement, auch mein albernes Hütchen. Die fröhlichen, begleitenden Eltern der bettelnden Kinder sehen aus wie auf dem Weg zu einer SM-Party. Lack und Leder, Schwarz und Rot, sehr lustig. Ich fühle mich total underdressed, aber das macht gar nichts: auch griechisch gekleidet geht Anton am Ende glücklich mit seinem Beutel Zahngift nach Hause.

An dem Abend, an dem Theo seinen zweiten Geburtstag feiert, gehen wir aus. In der Nähe ist das Lokal “Barkaza”, das mexikanisches Essen offeriert. Und das ist unglaublich gut. Doch Theo ist – außergewöhnlich bei diesem genussfreudigen Kind – höchst abgelenkt. Er flirtet mit einer Frau aus der Küche. Das haben wir so noch nie erlebt. Sonst gar nicht schüchtern, muss er jetzt unbedingt an der Ecke stehen und sie betrachten. Manchmal scheu winken. Und aufgeregt kurz zu uns zurückkehren. Manchmal tanzt er auch für sie. Die Telefonnummern auszutauschen halten wir für verfrüht.

Die Frau, die uns das Essen bringt, knapp zwanzig, kommt mit uns über das Reisen ins Gespräch, auch sie plant Großes für nächstes Jahr. Wir werben für das Couchsurfen, laden Alberta ein, tauschen Adressen aus. Sie schickt uns am nächsten Tag eine Mail: Eines Tages würde sie auch eine Frau kennenlernen, mit der sie Kinder haben könnte. So wie wir. Wir sind sehr gerührt. Ein paar Tage später sitzen wir beim gemeinsamen Eis. Alberta wohnt noch zu Hause, der Alltag ist nicht gerade einfach. Sie ist nicht geoutet, aber das soll bald kommen. Alle erzählen ihre Coming-Out-Geschichten, ob es leicht war oder eher schwer. Auch sie wird ihren Weg machen, selbstbewusst erzählt sie vom Fußball wo sie – na klar – tolle Frauen trifft. Beziehungen freilich laufen dann nur außer Haus. Aber in Zukunft soll sich alles ändern. Wir drücken ihr die Daumen.

Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - Cajon de MaipoGabrielles und Edvins Erzählungen über das nahe gelegene Gebiet ‚Cajon de Maipo‘ locken uns ungemein. Wir durften ihr Haus hüten, als sie vor ein paar Tagen dort ihr Vollmond-Wochenende verbrachten, ihr monatliches Liebesritual. Jeden Monat machen sie etwas ganz Besonderes zusammen, nur zu zweit.

Das Cajon de Maipo liegt kaum zwei Busstunden von Santiago entfernt, wir machen einen Tagesausflug und sind so begeistert, dass wir wiederkommen und bleiben wollen, im ‚Wendland’ Santiagos. Es ist neben der schönen Landschaft – grüne Täler zwischen steilen Hängen und einem Vulkan – berühmt für Wein, Obst, Vollkornbrot und seine Alternativszene. Ein gefährdetes Paradies. Geplant ist, dass der Fluss zu einem Stausee werden soll. Ein gigantisches Kraftwerk würde nicht mehr viel übrig lassen von dem Idyll. Ein Großprojekt, von dem die Bewohner nichts hätten, außer der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Aber es gibt Widerstand dagegen, überall sehen wir Plakate. Am Abend essen wir zu dem hiesigen feinem Rotwein das köstlichste Rindfleisch – auch aus dem Dorf – das wir je gegessen haben.

Täglich wird es immer heißer. Weiterreisen Richtung Atacama-Wüste können wir noch nicht, wir brauchen für die Diebstahl-Versicherung die Bescheinigung vom „Fiscal“ und die ist noch nicht fertig. Auf ins Cajon de Maipo, mit dem Bus für drei Tage nach San Alfonso. Wir wohnen in einer Cabana, einer typisch chilenischen, klitzekleinen Ferienhütte.

Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - In San Alfonso im Cajon de MaipoTags darauf wagen wir eine Wanderung, steil geht es bergan, überall stehen Hütten mit idyllischen Gärten. Hier verbringen viele aus Santiago ihre Wochenenden und Ferien. Ich entdecke immer wieder begeistert das wild wachsende Ruta, ein Gewächs, das besonders in der Homöopathie zur Behandlung von MS-Symptomen eingesetzt wird. Ein starkes Kraut, zart gelb blühend und als Tee von üblem Gestank und Geschmack. Mehr als eine Tasse ist niemanden anzuraten, bei einer Schwangerschaft ist es absolut tabu, es wurde früher zur Geburtenkontrolle eingesetzt. Wenn ich in der Apotheke den Tee bestelle, werde ich sehr kritisch beäugt und nur nach genauer Befragung wieder freigelassen.

Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - In San Alfonso kurz vor dem GipfelDer Berg wird plötzlich extrem steil. Auf allen Vieren kriechen wir weiter über das Geröll, bis uns die brennende Sonne und die Vernunft zur Rückkehr zwingen. Aber stolz sind wir über unser Gekräuche und den mutigen Anton. Im Garten gibt es einen kleinen Pool mit eiskaltem Quellwasser  – der reine Himmel – und zur Freude der Kinder: freundliche Hunde, die perfekten Spielkameraden.

Am Abend kehren wir in der Kneipe an der Ecke ein. Ein Pferd steht angebunden davor. Ein Bild wie aus einem Film. Dort entdecken wir eine große Liebe zu chilenischem Fastfood: Chuleta. Das ist ein Berg – in diesem Fall sogar selbstgemachte – Pommes Frites, darauf Streifen von feinem Rindfleisch, jede Menge gebratene Zwiebeln und deren himmlische Bratensoße. Zur Krönung oben ein Spiegelei und alle  Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - im Cajon de MaipoWanderer sind glücklich. Antons Glück wird perfekt, als er mit einer Spiderman-Maske spielen darf und Theo juchzt, als wir hören, dass wir am Ende der Straße auch reiten können. So günstig, dass es für unseren schmalen Geldbeutel in Ordnung ist.

Ökoarchitekten haben das langgezogene Tal mit allerlei Schmuckstücken versehen, ein baubiologisches Wunderwerk nach dem anderen taucht im Gestrüpp auf. Das Hotel Cascadas de las Animas, das wir tags darauf besichtigen, ist Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - Archtiketur ohne Grenzen umgeben von einem einzigen Hobbitland. In der Rezeption – natürlich auch ein runder Lehmbau mit spezieller Atmosphäre – entdecken wir ein Bild von Campino, Sänger der Toten Hosen, der sich hier wohl sehr wohlgefühlt hat. Kein Wunder, das ganze Gelände des Hotels ist eine einzige Augenweide voller verzauberter Ecken. Alles passt sich perfekt in die Natur ein. Es gibt auch ein günstigeres Hostel und einen Zeltplatz. Mutige springen beim Canopy am Seil in die Schlucht, durch die ein Wildwasser tost und vom Picknickplatz aus kannst du dabei zuschauen. Schade, dass wir wieder abreisen, am Liebsten würden wir sofort auch solche Häuser bauen.

Zurück in Santiago sitze ich mit dem Engel Edvin beim ‚Fiscal’ ein paar Stunden für das letzte Amtspapier ab, dann feiern wir Abschied. Ob wir uns in Santiago oder Hamburg oder in Vermont wiedersehen? Die beiden planen ein Umsiedeln in den Norden der USA. Gabrielle ist in Vermont geboren. Ob sie nicht die Wärme vermissen werden? Edvin ist es jetzt schon viel zu heiß – und der Sommer kommt erst noch – er freut sich auf den Schnee. In Santiago schneit es nie. Schnee ist auch Gabrielle große Liebe, in Vermont gibt es zauberische schneereiche Winter.

Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - ValparaisoEndlich mit neuen Kameras ausgestattet geht es auch für uns gen Norden, aber in den heißen. 1680 Kilometer. Das große Ziel ist die Atacama-Wüste. Auf dem Weg werden wir immer wieder stoppen, wir haben genug Zeit, um spontan zu sein, das ist ein köstliches Gefühl. Unser nächstes Ziel ist die bunte Stadt am Meer: Valparaiso. Ich versuche, wieder Couchsurfer zu finden, aber wir haben kein Glück. Auch Hostels und Hotels stellen sich als zu teuer oder belegt heraus. Ausgerechnet hier!

Valparaiso ist seit langem ein Traum. Nicht zuletzt auch wegen Reinhard Mey – Kindheitssänger – und dessen Lied ‚Ulla und ich’: Dieter Malinek, der olle Journalist, der dem 16-Jährigen Provinzbewohner Reinhard die liebe Ulla ausspannte mit seinen Reisegeschichten von der weiten Welt. Und am End stand Ulla doch nur hinterm Tresen und war “nie in Valparaiso gewesen”. In der Welt-Kulturhauptstadt. Halloween bei 30 Grad, Chiles Wendland und die größte Open-Air-Galerie der Welt - Blick aus dem Haus Pablo Nerudas in ValparaisoWarum sie diese Auszeichnung verdient, ist an jeder Häuserwand zu sehen. Ein Kunstwerk reiht sich ans andere in der bergigen Hauptstadt des Edel-Graffitis am Meer. Und auch dort hatte Pablo Neruda ein fantastisches Haus mit Blick über die ganze Bucht, heute ein Museum für Literaturliebhabende gleichermaßen wie für Inneneinrichtungs-Fans. Und wir finden keine Unterkunft? Wird Valparaiso auch für uns ein ewiger unerfüllter Traum bleiben?

Gabrielle und Edvin feiern ihre Liebe jeden Monat mit einem schönen Ritual. Gibt`s auch für Dich solche Rituale? Welche Lieder haben Dich zu besonderen Taten inspiriert?

Alex